Bachelor- und Masterstudiengänge:Ende einer Lebensform

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Von Humboldt zu Bologna: Der atemberaubende Untergang der deutschen Universität.

Gustav Seibt

In diesen Jahren spielt sich ein Drama ab, dessen Tragweite in der Öffentlichkeit kaum begriffen wird. Es handelt sich um den Untergang der deutschen Universität, wie sie vor allem von Wilhelm von Humboldt vor 200 Jahren konzipiert wurde. 2010, zum Jubiläum der 1810 gegründeten Berliner Universität, wird dieser Untergang besiegelt sein. Denn dann soll der "Bologna-Prozess" auch in Deutschland abgeschlossen werden, der schon jetzt keinen Stein auf dem anderen lässt in den höheren Bildungsanstalten. Man kann den Verdacht äußern, dass das "Jahr der Geisteswissenschaften" dazu dient, von der entscheidenden Phase dieses Prozesses abzulenken.

Radikale Reform: Armer Wilhelm von Humboldt, mit Bologna wird alles anders. (Foto: Foto: sueddeutsche.de)

Der Vorgang hat historische Tragweite, und wenn das Jahr 1810 in den Geschichtsbüchern zu Recht fett gedruckt wird, dann muss dies auch fürs Jahr 2010 gelten. Die Einführung der Bachelor- und Masterstudiengänge zwischen Oxford und Neapel oder zwischen Salamanca und Krakau - um große Namen der Universitätsgeschichte zu nennen - berührt ganz Europa, vor allem aber Deutschland.

Denn das System von Modulen, Leistungspunkten, Studienzeiten, Prüfungen und praktischen Studienfächern, die Hierarchisierung und Bürokratisierung der Abläufe, das Zielgerichtete und Arbeitsmarktorientierte der neuen Studienmuster - all das bricht hier so radikal wie nirgendwo sonst mit den bisherigen Formen des Studiums. Dies gilt am meisten für die Geisteswissenschaften, also das, was man noch vor einer Generation als zweckfreie Bildungsfächer aufgefasst hätte, Philosophie, Philologien, Kunst- und Literaturwissenschaften, Geschichte.

Man muss den Umbruch zunächst gar nicht bewerten, um seine strukturelle Qualität zu benennen. Es geht um die Wahrnehmung des Vorgangs. Er lässt sich in drei Punkten resümieren.

Erstens bricht die Einführung der scharf reglementierten Bachelor-Studiengänge mit der Humboldtschen Unterscheidung von Schulunterricht und Universitätsunterricht. Wilhelm von Humboldt begriff das Ausbildungssystem als Abfolge logisch aufeinanderfolgender Geistesstufen: Der Elementarunterricht sollte die Instrumente des Wissenserwerbs, Schrift, Zahlen, Muttersprache sowie ein paar Grundkenntnisse bereitstellen. Der eigentliche Schulunterricht diente dann dem allgemeinen Wissenserwerb, vor allem aber dem "Lernen des Lernens". Wer zum Beispiel einmal eine Sprache grammatisch durchschaut hatte - idealerweise eine alte Sprache -, dem würde das Erlernen aller weiteren Sprachen zum Kinderspiel werden.

So vorbereitet sollte die Universität dann zur Stätte der selbständigen Forschung, also der Wissensproduktion werden, bei der Studierende und Lehrende als Forschende gar nicht mehr streng geschieden wurden. Die Universität war ein geistiger Ruhepunkt "zwischen der Schule und dem Eintritt ins Leben". Entscheidend war die Autonomie nicht nur der Themen- und Fächerwahl, sondern auch bei der Vergemeinschaftung: Einsamkeit und Freiheit, was nicht Fürsichbleiben meinte, sondern, in Humboldts Worten, "ein ununterbrochenes, sich immer selbst wieder belebendes, aber ungezwungenes und absichtsloses Hervorbringen und Unterhalten".

Genau damit ist es jetzt vorbei. Studienzeiten und Studienkonten, Studienpunkte und Creditpoints, berufspraktische Übungen, Kontrollen und Vergleichbarkeitskriterien sorgen planmäßig dafür, dass Ungezwungenheit und Absichtslosigkeit aus dem Studium verbannt werden. Es ist nur folgerichtig, dass der Bologna-Prozess seine Befürworter vor allem auf den "Beruf und Chance"-Seiten der großen Zeitungen findet.

Aus dieser Umstellung folgt zweitens die Aufhebung der Humboldtschen Einheit von Lehre und Forschung. Brutal könnte man sagen: Es entsteht unter den Lehrenden ein Zweiklassensystem, bei dem die einen die Dreckarbeit des Unterrichtens, Prüfens und Verwaltens tun und nicht zuletzt den enormen Dokumentationspflichten genügen, also Anwesenheitslisten führen und Studienkonten im Internet bereithalten, während eine kleine Gruppe von Stars in Max-Planck-Instituten, an amerikanischen Universitäten oder Wissenschaftskollegs angeregt forscht und debattiert.

Die wissenschaftliche Tagesarbeit in Zeitschriften und Handbüchern aber wird vor allem von Anfängern übernommen, während den Professoren ihre besten Jahre beim Verwalten und Organisieren von Drittmitteln vergehen. Wenn sie großes Glück haben, gewinnen sie einen Leibniz-Preis, den sie für die jahrelange Bestallung von Vertretern verwenden, um selbst Bücher schreiben zu können.

Verschulung und Bürokratisierung der Universität münden drittens in die Ersetzung von Innensteuerung durch Außensteuerung. Der Bologna-Prozess wurde in Gang gesetzt, um eine europaweite Vergleichbarkeit der Studiengänge und -abschlüsse zu erreichen, die vor allem der Mobilität der Absolventen auf dem gesamteuropäischen Arbeitsmarkt dienen soll.

Im "ungezwungenen" System Humboldts wurde solche überregionale Homogenität durch nichts anderes erreicht als das innere Gespräch der Wissenschaften, in dem der jeweils höchste Standard sich im Wettbewerb der Methoden und Resultate durchsetzen sollte. Signum dieser Selbststeuerung war der internationale Erfolg: Nach Deutschland kamen Studenten aus aller Herren Länder, von Amerika bis Japan, aus Frankreich, Italien und Russland. Die amerikanischen Eliteuniversitäten verstanden sich als Kopien der deutschen Institute.

Humboldt war gut für Irrende

Gern wird von Bologna-Befürwortern nicht ohne Häme darauf hingewiesen, dass die von den Professoren beklagte Bürokratisierung nur bedeute, dass diese erstmals in kontrollierter Weise für ihre Studenten da sein und arbeiten müssten. Und in der Tat: Im Humboldtschen System war die Gemeinschaft zwischen Studenten und Professoren, Zuwendung, Diskussion, Streit, zwanglos gedacht, als spontane Vergemeinschaftung geistiger Menschen, die von denselben Fragen bewegt waren. Heute sorgen Evaluierungen und zur Not der Internetpranger des Studienkontos dafür, dass den Säumigen Beine gemacht werden.

Diese drei Strukturprozesse - Verschulung des Studiums, Separierung von Forschung und Lehre, Außensteuerung statt Innensteuerung - haben alle Mächte des durchrationalisierten, auf anwendbares Wissen basierten Wirtschaftssystems auf ihrer Seite. Insofern erscheinen sie unvermeidlich. Unvermeidlich auch deshalb, weil das alte Konzept von "Einsamkeit und Freiheit" sich in der Massenuniversität längst als in reiner Form undurchführbar herausgestellt hatte - es führte vielerorts zur Gleichgültigkeit bis zur Vernachlässigung, zum massenhaften Lebenszeitverderb, zum Überleben der Fittesten, also zum genauen Gegenteil dessen, was Humboldt intendierte.

Und umgekehrt mag es sein, dass die bisher aufgetretenen Schwächen im Bologna-Prozess - beispielsweise, dass entgegen den ursprünglichen Absichten Auslandsstudien fast unmöglich werden oder dass die freie Kombination von Fächern praktisch abgeschafft wurde - noch korrigiert werden können. Trotzdem bleibt die Radikalität des Umschwungs von Humboldt zu Bologna, wenn man von einem Pol zum anderen blickt, atemberaubend. Vielleicht hat es seit dem Ende der platonischen Akademie in Athen ein so einschneidendes Datum in der Geschichte der menschlichen Bildung nicht mehr gegeben.

Es hat immer Menschen gegeben, die nicht mit einem Berufsziel studierten, sondern weil sie sich mit Homer, Dante oder Nietzsche beschäftigen wollten - für ein paar Jahre oder ein Leben lang; die an die Universität gingen, weil sie Byzanz oder das Chinesische Reich kennenlernen wollten. Es wird diese Menschen auch in Zukunft geben. Aber sie werden viel einsamer und viel unfreier bleiben müssen als zuletzt ohnehin schon. Bologna ist gut für Menschen, die mit zwanzig schon wissen, was sie werden wollen. Humboldt war gut für Suchende und Irrende. Ein ganzer Menschentypus, ja eine Lebensform wird heimatlos.

© SZ vom 21.6.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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