Autistische Studenten:"Ich wurde vom Monster zum Menschen"

Veronika Raila ist Autistin und schwer körperbehindert. Einst wurde ihr ein Intelligenzquotient von null attestiert. Heute studiert sie - mit Erfolg.

C. Bleher

Für Veronika Raila hat das Wort "Inklusion", zu Deutsch "Einschließung", zwei Bedeutungen - eine abgründige und eine verheißungsvolle. Die erste entspricht einem lähmenden Gefühl: eingeschlossen zu sein als hellwacher Geist und hochempfindsame Seele im Gefäß eines Körpers, den sie nicht willkürlich bewegen kann. Die zweite entspricht einem beflügelnden Wunsch: eingeschlossen zu sein in eine Gemeinschaft, wahrgenommen zu werden als vollwertiger Mensch, auch wenn der nicht gehen kann und nicht greifen, nicht sprechen und nicht dem Gegenüber direkt in die Augen schauen.

Es ging um Inklusion

Für Veronikas Eltern hieß das schon vor vielen Jahren: darum zu kämpfen, dass ihre Tochter trotz schwerster Behinderung am regulären Bildungsbetrieb teilhaben darf. Es ging um Inklusion - in der besseren Bedeutung.

Petronilla und Uwe Raila ahnten zunächst selbst nicht, wie sehr sich ihre Tochter aus jener Sonderwelt wegwünschte, in die sie nach dem Besuch eines integrativen Kindergartens verwiesen worden war. Eine Sonderpädagogin hatte dem Mädchen einen Intelligenzquotienten von null attestiert, die Falltür war aufgesprungen.

Zu einer Sache mutiert

Als Veronika Jahre später einmal gebeten wurde, in einem Seminar für Grundschulpädagogik zu schildern, wie sie ihre zwei Jahre auf der Förderschule erlebte, bekamen die Lehramtsanwärter via Computer-Sprachwandler dies zu hören: "Zunächst wurde ich wegen meiner Körperbehinderung vom Regelschulsystem diskriminiert, und im Förderschulsystem wurde von diesen Merkmalen auf innere Werte geschlossen. Dieser Gedankengang ließ mich zu einem Ding, zu einer Sache mutieren. Können Sie sich meine Gefühle vorstellen, wenn ich frühmorgens in den roten Bus stieg, der mich zu dieser Schule brachte?"

Schon bald entdeckte ihre Mutter jedoch eine Methode, ihre Tochter besser kennenzulernen: Facilitated Communication (FC) - "gestützte Kommunikation". Sie lernte, die Hand der Tochter locker über Symboltafel oder Tastatur zu halten, frei von eigenem Willen, und zarten Impulsen in Richtung dieses oder jenes Zeichens zu folgen. Ein Psychologe korrigierte derweil das Fehlurteil "geistige Behinderung" und diagnostizierte das Asperger-Syndrom, eine besondere Form von Autismus. Veronika lernte rasch Lesen, Rechnen und Schreiben und sich mittels FC mitzuteilen. Ihre Mutter, eine Berufsschullehrerin, fand langsam Zugang zu einer wundersamen Welt verwinkelter Gedankengänge und fremdartiger Wahrnehmung.

"Für andere muss ein Puzzle geschaffen werden"

Irgendwann entdeckte die Mutter, dass Vroni Zahlen in Potenzen mit der Basis 2 zerlegt und in Primfaktoren. Es ist ein komplizierter Weg, aber es ist eben ihre Methode, mit Zahlen umzugehen. Veronika sagte: "Zuerst habe ich nach deiner Art gerechnet, aber schon bald hat mein Kopf mir die andere Lösungsart gezeigt."

Ihr Kopf zeigte auch ungewöhnliche Formulierungen, wie in Veronikas dialogischem Poem "Ozean des Wissens", einem ihrer Gedichte und Schriften, die demnächst unter dem Titel "Vor Sonnenaufgang" veröffentlicht werden: "Wo ist die Küste der Liebe?/Da wo das Meer des Wissens ganz flach wird, das Wasser klar und ruhig./Ist dort auch der sichere Boden, auf dem ich zu gehen vermag?/Natürlich, dort ist auch der sichere Boden./Kann man dort das Strandgut der Gedanken fest mit einbauen?/Ich denke, wenn Platz dafür gelassen wurde, manche Teile passen wie bei einem Puzzle hinein. Für andere muss oft noch ein Puzzle geschaffen werden."

Phantasie wird nicht benotet

Ob das Mädchen im Rollstuhl ins Bild einer normierenden Bildungslandschaft passen würde, hing sehr davon ab, wie gut FC funktionierte und anerkannt wurde. Zweifel war Gift. Als Petronilla Raila ganz zu Anfang einmal die Methode laut denkend in Frage stellte, bemerkte sie entsetzt, wie sich Veronikas Augen eindrehten und trüb wurden. Veronika erinnert sich: "Da habe ich mich gefühlt, als ob du mich von der Erde entfernst."

Unmut im Elternkreis

Die Grundschule absolvierte sie mit einem Schnitt von 2,0. Sie fand Aufnahme im katholischen Privatgymnasium Maria Stern in Augsburg, obwohl sich zunächst in Elternkreisen Unmut regte. Der Unterricht fand wegen ihr zumeist im Erdgeschoss statt, für Prüfungen gewährte man ihr ein Drittel mehr Zeit. Als klar wurde, dass der Stress für das empfindsame Mädchen auch unter dieser Voraussetzung zu groß war, durfte es sich endlich den Stoff nach eigener Art aneignen und Prüfungen unabhängig von Noten zu Hause bearbeiten.

Einmal sollten die Schüler ein Stundenprotokoll anfertigen. Das erledigten alle brav, Veronika aber schrieb das Protokoll einer Sitzung des Jüngsten Gerichts. Ihre Deutschlehrerin war begeistert. Allerdings wurde schnell klar, dass im bestehenden Leistungssystem überbordende Phantasie und Kreativität ohne valide Bewertung bleiben musste. Das bedeutete: kein Abitur.

Vom Wissen beflügelt

Die wissbegierige, junge Frau fühlte sich nach Ende der neunten Klasse ein zweites Mal wie beflügelt, als die Universität Augsburg ihr gestattete, Theologie- und Literatur-Vorlesungen zu besuchen. Als Gaststudentin durfte sie an der Seite einer Diplom-Heilpädagogin auch an Seminaren teilnehmen. Mittlerweile ist sie im dritten Semester und hat für einige Arbeiten bereits Scheine bekommen.

Bernhard Kamm, Schulpsychologe, Deutschlehrer und Dozent an der Uni Augsburg, kennt den Wissensdrang von Veronika Raila, genauso wie die Schnell-Schnell-Uni zu Zeiten von Bologna. Einen akademischen Abschluss hält er für unwahrscheinlich: Noch gibt es keine Prüfungsordnung, die auf sie anwendbar wäre, auch wenn der Gedanke der Inklusion, wie ihn die UN-Behindertenkonvention formuliert, auch diese Konsequenz nach sich ziehen müsste. Was sollte der freie Zugang zu allgemeiner Bildung wert sein, wenn er nicht auch zu anerkannten Abschlüssen führte?

"Wissen bis in die kleinste Zelle"

Kamm ist dennoch froh, dass Veronika Raila an der Uni aufgenommen wurde. Selbst wenn die Scheine am Ende nur der jungen Frau und ihren Eltern als private Bestätigung dienen sollten - das Glück, das sie offensichtlich erfahre, spreche schon allein für die Aufnahme. Veronika selbst beschreibt es heute, im Alter von 18 Jahren, so: "Meine erste Vorlesung ließ mich erschauern, das Wissen spülte sich in einem Schwall bis in meine kleinsten Zellen." Ihre Verwandlung beschreibt sie so drastisch, wie es ein Außenstehender nie wagen würde: "Ich wurde vom Monster zum Menschen."

Schulpsychologe Kamm sagt: "Für ihre Mitstudierenden ist es eine Bereicherung, zu sehen, wie der Wunsch nach Bildung zu einer Lebensnotwendigkeit werden kann." Der Theologie-Professor Franz Sedlmeier lobt, Veronika sehe "ungewöhnliche Zusammenhänge", etwa auf dem Gebiet der alttestamentlichen Ezechiel-Forschung. Als "Bereicherung" erlebt auch die Literaturwissenschaftlerin Bernadette Malinowski, was Veronika "mit ihrer originellen Kombinationsgabe" beitrage, wenn sie beispielsweise die postmoderne Erzählweise eines Botho Strauß deute.

"Menschen ordnen, ohne zu verstehen"

Petronilla Raila, Veronikas Mutter, kritisiert ein Bildungssystem, "das Kinder zwingt, Normen zu erfüllen und ihnen so die Gelegenheit raubt, sich selbst zu entwickeln". Sie promoviert derzeit über das Thema Inklusion. In einer früheren Arbeit hatte die Chemielehrerin zu zeigen versucht, dass Heterogenität in Bildungseinrichtungen eine Naturnotwendigkeit ist, so ähnlich wie in den Hauptsätzen der Thermodynamik. Diesen zufolge verteilen sich gleiche Teilchen gleichmäßig im Raum, sobald man eine vorangegangene künstliche Trennung aufhebt. In der Biologie, so lautet die These, führten oktroyierte, künstliche Ordnungen letztlich sogar zum Absterben des Organismus.

Railas Analogieschluss: Man dürfe unterschiedliche, aber im Kern gleichwertige Menschen nicht in vermeintlich homogene Gruppen aufteilen. Am Ende der Arbeit zitierte sie ihre Tochter, die einmal über die Zahlentheorie des Pythagoras doppeldeutig schrieb: "Menschen ordnen, ohne wirklich zu verstehen."

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