Ein Buch schreiben, auf einer Dachterrasse in Italien, ganz in Ruhe. Das sei schon lange ihr großer Wunsch, erzählte die Frau am Telefon. Über was sie allerdings schreiben wollte, das wusste sie nicht. "Im Laufe unseres Gesprächs hat sich dann herausgestellt, dass sie überhaupt kein Buch schreiben möchte", erzählt Daniela Scholl. "Sie konnte sich nur nicht eingestehen, dass sie auf einer Dachterrasse in Italien sitzen will. Einfach so. Nicht nur einen Nachmittag lang, sondern viele Nachmittage."
Warum, das ist die erste Frage, die Daniela Scholl ihren Kunden stellt. Warum wollen Sie ins Kloster, ins Tierheim, auf die Alm? Um Menschen bei der Gestaltung eines Sabbaticals zu beraten, gründete sie 2011 ihre "Auszeitagentur" in Frankfurt am Main. Neben der Suche nach dem geeigneten Projekt oder dem passenden Ort hilft die 43-Jährige auch dabei, Wege zu finden, die Pläne dem Chef zu vermitteln und das Ganze finanziell zu stemmen.
Eine Auszeit ist ein großes Versprechen, ein tiefer Wunsch vieler Menschen. Es ist eine Metapher dafür, mal durchzuatmen, aus dem Wohlbekannten herauszukommen, über die Dinge nachzudenken, für die nach Feierabend kein Platz ist. Manche möchten sich endlich einen großen Traum erfüllen, andere suchen nach mehr Sinn in ihrem Leben oder haben Lust, etwas Neues auszuprobieren. Eine Auszeit ist aber auch Ausdruck großer Überforderung und Überlastung in einer Arbeitswelt, in der es vor allem darauf ankommt, Erwartungen zu erfüllen - die eigenen und die der Chefs.
"Kein Mensch wusste, wie man eine Auszeit am besten deichselt"
"Mich interessiert zunächst der Antrieb. Wünscht sich jemand eine Auszeit - oder will er nur weg, weil er mit seinem Leben hier nicht mehr klarkommt", sagt Daniela Scholl. Manche Kunden habe sie wieder weggeschickt mit der Bitte, über das Warum nachzudenken. "Schließlich bin ich keine Psychotherapeutin."
Sozialunternehmer:Vom Aufsteiger zum Aussteiger
Gute Noten, tolle Projekte, High Potential: Ein junger Banker hat eine steile Karriere vor sich. Bis er mit dem System kollidiert, von dem er profitiert hat.
Aber braucht man für die Umsetzung seiner Wünsche wirklich Hilfe von außen? Für Daniela Scholl war es die logische Konsequenz, nachdem sie 2008 selbst eine Auszeit nehmen sollte. Ihr ehemaliger Arbeitgeber wollte die Quartalszahlen verbessern. Ihren Kollegen war die freie Zeit unheimlich, Daniela Scholl war dagegen glücklich, zwei Monate für sich zu haben.
Doch wie sie sich in dieser Zeit versichern, wie sie finanziell klarkommen sollte, ohne auf Ersparnisse zurückzugreifen: Dazu konnte ihr die Personalabteilung keine Auskunft geben. "Kein Mensch wusste, wie man eine Auszeit am besten deichselt", sagt Daniela Scholl. Nachdem sie sich schlaugemacht hatte, war sie sicher, auch anderen dabei helfen zu können. Und so machte sie sich selbständig.
Den Großteil ihrer Kunden bekommt sie nie zu Gesicht, sie berät am Telefon. Das Schnupperpaket - 99 Euro, 90 Minuten - wird am häufigsten gebucht. Zwei- bis dreimal pro Jahr bietet Daniela Scholl zudem Wochenendseminare an. Nach jedem Gespräch macht sie sich auf die Suche und schickt neben einer Zusammenfassung des Gesprächs konkrete Vorschläge, wie die Auszeit aussehen könnte.
"Ich begreife mich als Steinchen-ins-Rollen-Bringerin", sagt Daniela Scholl in einem Café in Frankfurt. "Aber ich kann natürlich keine Erfolgsgarantie geben, sondern nur das Versprechen, dass ich so lange suche, bis ich etwas gefunden habe, was meiner Meinung nach passen könnte."
Auf den ersten drei Plätzen der Sabbatical-Hitparade liegen: in der Natur arbeiten. Was mit Tieren machen. Sich sozial engagieren. Zur Beratung gehört aber auch, manchen den Wind aus den Segeln zu nehmen. "Der berühmte Sommer auf der Alm zum Beispiel: Wenn jemand in seinem ganzen Leben noch kein Tier angefasst hat, weiß ich nicht, ob er der Richtige ist, um wochenlang Ziegen zu melken", sagt Daniela Scholl. "Nicht jede Bergbauernfamilie hat außerdem abends große Lust, sich über den Tag auszutauschen, nur weil der Städter gerade Redebedarf hat."
Auch soziale Projekte muss sie oft entromantisieren, gerade im Ausland. Mit einem Waisenkind in Vietnam drei Wochen Spielen und Toben mag ein edles Vorhaben sein. Aber profitiert das Kind wirklich davon oder könnte es darunter leiden, wenn man dann wieder abreist? "Ich kann vor der eigenen Haustür nachhaltiger und sinnvoller arbeiten, als irgendwo mal drei Monate lang vor Ort zu sein." Oft sei es ehrlicher zu sagen: Ich rette jetzt nicht die Welt, sondern habe einfach nur Lust, das Land zu bereisen. Sinn findet man nicht ausschließlich in Südindien.
"Es gibt keine zeitlichen Vorgaben"
Aus dem Alltag ausbrechen muss nicht bedeuten, dass man gleich für sechs Monate die Biege macht. "Meiner Meinung nach gibt es für eine Auszeit keine zeitlichen Vorgaben", sagt Daniela Scholl. "Muss es gleich der vierwöchige Töpferkurs in der Toskana sein oder reicht für den Anfang auch ein Abend pro Woche in der Keramikwerkstatt?"
Der Großteil ihrer Kunden sind Frauen um die 50. Frauen, die das Bedürfnis haben, die Endlosschleife zwischen Job und Familie unterbrechen zu müssen. Frauen, die denken: Jetzt bin ich dran. So wie Ulrike Walter. "Seit ich sieben Jahre alt bin, wollte ich in die USA", sagt die Freiburgerin in herrlichem Badisch. Über die Jahre wurde es konkreter: New York. Dieser große Traum hat sie nie losgelassen, aber dann waren da zwei Kinder, um die sie sich alleine kümmerte, ihre Freiberuflichkeit, Eltern, die man nicht mehr mit gutem Gewissen alleine lassen konnte.
Ende 2011 stirbt ihre Mutter. "Sie ist mit ihren Wünschen gestorben, die hat sie sich nie erfüllen können", sagt Ulrike Walter. "Das wollte ich anders machen, noch vor meinem 50. Geburtstag." Im Internet stößt sie auf die Auszeitagentur. New York, das steht fest. Aber wie es vor Ort weitergeht, da war anfangs nicht mehr als "irgendwas mit Kunst, Kultur oder Natur".
Daniela Scholl fand für sie eine Organisation, die Projekte mit professionellen Künstlern für benachteiligte Kinder anbietet. Genau das Richtige für Ulrike Walter. "Visum, Arbeitserlaubnis, Untervermietung: Alleine hätte ich das zeit- und kräftemäßig nicht geschafft. Für mich war es wichtig, dass jemand in dieser Zeit meine Pläne mitgetragen und gestützt hat", erklärt Ulrike Walter. Fünf Monate im Ausland, ganz allein, eine Premiere für die 48-Jährige. Die älteste Tochter war nicht so begeistert von ihrer Idee, auch sie selbst hatte Zweifel. Durfte sie jetzt, ein halbes Jahr nach dem Tod der Mutter, ihren alten Vater alleine lassen? "Mir wurde bald klar, dass ich das machen muss." Von der Zeit in ihrer Lieblingsstadt profitiert sie noch heute, fünf Jahre später.
Sich Zeit für sich nehmen und sich selbst die Erlaubnis dafür zu erteilen: Viele haben schon Schwierigkeiten bei dieser ersten Hürde und brauchen jemanden, der sie schubst. "Ich finde, dass im Ausprobieren eine große Qualität liegt", sagt Daniela Scholl. Wobei ausprobieren auch bedeute, dass man jederzeit abbrechen kann.
Die eigentliche Qualität der Agentur ist Daniela Scholl selbst. Mit ihrer angenehm warmherzigen Art macht sie es ihren Kunden leicht, sich zu öffnen und von unerfüllten Wünschen zu erzählen. Und manchmal von der Verzweiflung darüber, das Wesentliche zu verpassen. Dann erfährt Daniela Scholl oft mehr als mancher Lebenspartner. Es ist ein abstraktes Arbeiten, das auch mal in die Leere führt: Nicht immer erfährt sie, ob ihre Kunden sich nach der Beratung wirklich eine Auszeit nehmen oder nur darüber reden wollten.
SZ Jetzt Jobbatical:Kokosmilch statt Kaffee
Programmieren unter Palmen, Werbetexten in der Hängematte: Wie schön, wenn man mal anderswo arbeiten kann. Denn oft ist nicht der Job selbst so ermüdend, sondern die triste Büroatmosphäre. Dann nimmt man statt einem Sabbatical einfach ein Jobbatical.
Die Idee eines Sabbaticals stammt von den Universitäten. Dieser Sonderurlaub erlaubt Professoren, in Ruhe nachzudenken, zu forschen und sich weiterzubilden. Vielen Unternehmen in Deutschland fällt es schwer, dies als Chance zu sehen für die Mitarbeiter und den Betrieb. Der Verbreitungsgrad von Sabbaticals ist laut Bundesfamilienministerium zwischen 2009 und 2012 spürbar zurückgegangen. Nur noch jedes zehnte Unternehmen bietet seinen Mitarbeitern an, eine längere berufliche Auszeit zu nehmen. Doch die Gesellschaft braucht Menschen, die aus der Alltagsroutine ausbrechen, querdenken und ihrem Verpflichtungsgefühl, immer alles möglich und alle glücklich zu machen, entkommen, bevor sie selbst kaputtgehen.
Um das zu realisieren, gibt es mehr Möglichkeiten, als man denkt: unbezahlten Urlaub, Ansparmodelle ähnlich wie bei der Altersteilzeit, Versicherungen, die man eine Weile ruhen oder beitragsfrei stellen lassen kann, sogar der Haustausch ist möglich, wenn man einen Ortswechsel braucht.
"Ich muss mal raus"
Gotje Mieck ist von Mitte März an raus. Dann tauscht sie Lübeck gegen zweieinhalb Monate Hawaii, um dort in einem Ökodorf zu arbeiten. "Es ist gar nicht so leicht, etwas zu finden, das mehr ist als nur Urlaub. Ich bin ja nicht mehr 21 Jahre alt", sagt Gotje Mieck, auch eine von Scholls Kundinnen. Auf das Gespräch mit ihrem Chef bereitete sie sich akribisch vor. Sie hatte im Hinterkopf, was jeder Berater predigt: Statt zu sagen "Ich muss mal raus", kommt man besser mit konkreten Vorschlägen, wie sich die Wochen oder Monate überbrücken lassen.
Anti-Stress-Kurse in Unternehmen:Menschen fürs Büro dressieren
Menschen können ihre Widerstandskraft bei Stress und Krisen stärken. Das Perfide: Auch bei Wirtschaftsbossen ist das Thema angekommen. In Kursen sollen Mitarbeiter nun lernen, psychischen Druck auszuhalten. Aber wo ist die Schmerzgrenze?
Am Ende musste sie keine Überzeugungsarbeit leisten, ihre Vorgesetzten gaben gerne ihr Okay. Auch die finanzielle Umsetzung steht: "Ich lasse mir mein Urlaubs- und Weihnachtsgeld nicht auszahlen, das reicht genau für zwei Monate", sagt die 49-Jährige. "Das klingt simpel, aber darauf wäre ich selbst nicht gekommen."
Von ihrer Agentur allein könnte Daniela Scholl nicht leben. Nebenbei hilft sie in der Firma ihres Mannes mit. "Wenn ich von einer Auszeit spreche, dann auch davon, dass man sein Leben anders strukturieren kann und dass Lebensläufe nicht immer linear verlaufen", sagt sie.
Ihr eigener Traum muss noch warten, gerade fehlt die Zeit. Gemeinsam mit ihrem Mann möchte Daniela Scholl im umgebauten Unimog bis an den Baikalsee fahren, um dort in einem russischen Dorf auf dem Land zu leben. Immerhin lernt sie schon Russisch. Der große Traum in kleinen Schritten.