Süddeutsche Zeitung

Ausländische Ingenieure in Deutschland:150 Bewerbungen, drei neue Anzüge, keine einzige Stelle

Deutschland fürchtet den Fachkräftemangel, Ingenieure sollen sogar aus Indien angeworben werden. Paradox: Krikor Sarkisian ist Ingenieur, spricht Deutsch - und sucht trotzdem seit acht Jahren vergeblich nach einem Job. Wie Deutschland seine Talente verschwendet.

Alina Fichter

Nein, singen möchte Krikor Sarkisian nicht mehr. Früher in Irak, da sang er jede Woche. Er trug dann weiße Hemden zu schwarzen Anzughosen, auf der Bühne stand er ganz vorne, das Mikrofon in der Hand, hinter ihm Gitarrist, Bassist, Schlagzeuger.

Jetzt sitzt Krikor Sarkisian auf seinem Wohnzimmersofa in München, kurze Hose, vorsichtiges Lächeln, der betrübte Blick liegt auf dem Foto mit der Band, das von vergangenen Zeiten erzählt. Seit 2003 lebt der Maschinenbauingenieur in Deutschland.

Es ist Nachmittag, der 44-Jährige wäre jetzt lieber in der Arbeit als auf dem Sofa. Aber er hat keine Stelle. Und er findet auch keine. 150 Bewerbungen hat er verschickt, in sechs Monaten. Drei neue Anzüge hat er gekauft. Eingeladen wird er trotzdem nicht. "Ich verstehe das nicht", sagt Sarkisian und deutet auf einen daumendicken Stapel Papier, geschützt von einer Plastikhülle. Rechts oben klebt ein gelber Zettel, "Absagen" steht darauf.

Sarkisians Geschichte ist die eines Mannes, der alles richtig gemacht hat und seit acht Jahren vergeblich darum kämpft, einen Job zu finden - und das als Ingenieur. Es ist paradox: Unternehmen suchen nach Fachkräften, Arbeitsministerin Ursula von der Leyen sieht im Fachkräftemangel mittelfristig die größte Bedrohung für Wirtschaft und Wohlstand Deutschlands. Vor allem Ingenieure fehlen, es sollen daher sogar Talente aus Indien angeworben werden. Aber den ausländischen Fachkräften, die bereits hier leben, verwehrt Deutschland den Zutritt zur Arbeitswelt.

Sarkisian ist bei weitem nicht der Einzige: Eine viertel Million Einwanderer arbeiten hierzulande gar nicht oder weit unter ihrer Qualifikation. Promovierte Ärzte als Taxifahrer, ausgebildete Lehrerinnen als Putzfrau. Hinter diesen Biographien des Abstiegs verbergen sich persönliche Dramen. Wieso sind meine Fähigkeiten hier nichts wert, fragen sich viele Einwanderer. Deutschland verschwendet Talente, die es dringend braucht.

Zwar hat die Regierung das erkannt und plant ein Gesetz, das die Anerkennung ausländischer Abschlüsse erleichtern oder, wie bei Handwerksberufen, überhaupt erst ermöglichen soll. Ein sinnvoller Vorstoß. "Aber eine strategische Förderung von Einwanderern fehlt weiterhin", sagt Klaus Bade, Vorsitzender des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration.

Es scheint, als sei Deutschland einfach noch nicht reif, die Qualitäten der dringend benötigten ausländischen Fachkräfte zu nutzen. "Auch das Anerkennungsgesetz geht nicht weit genug", sagt Bade. Sarkisians Abstieg vom erfolgreichen Ingenieur zum Hartz-IV-Empfänger hätte es jedenfalls nicht gebremst. 2003 floh er aus Irak, 2007 bekam er eine Aufenthaltserlaubnis. Sofort begann er, Deutschkurse zu besuchen. Er hoffte, bald in seinem Beruf arbeiten zu können.

Nur seinen irakischen Abschluss müsse er rasch noch anerkennen lassen, dachte er. Weit gefehlt: 400 Anerkennungsstellen gibt es hierzulande. Welche zuständig ist, hängt von seinem Beruf und Aufenthaltsstatus ab. "Ein Dschungel", sagt Martina Müller-Wacker, Autorin der ersten umfassenden Studie über die Anerkennung ausländischer Qualifikationen - Titel und Fazit: Deutschland betreibe "brain waste", es verschwende kluge Köpfe. So dicht ist das Wirrwarr, dass selbst die Ämter überfordert sind - obwohl ihnen, anders als den Einwanderern, Sprache und Tücken der deutschen Bürokratie vertraut sind.

Sarkisian fand heraus, dass die oberbayerische Regierung für ihn zuständig ist, im Februar 2007 schickte er ihr seine übersetzten Zeugnisse. Und wartete. "Es dauerte ewig, bis ich eine Antwort bekam", sagt er. Bis März 2008, über ein Jahr also. Zwar soll das neue Gesetz diese Wartezeit künftig verkürzen, aber nur für Berufe, die der Bund regelt. Ingenieure sind Ländersache.

Im Antwortschreiben war die Rede vom "Gesetz zum Schutze der Berufsbezeichnung Ingenieur von 1970". Sarkisian hatte Mühe zu verstehen, dass das die Anerkennung seines Studiums an der Universität Bagdad war. "Manche Einwanderer denken gar fälschlicherweise, der Antrag sei abgelehnt", sagt Müller-Wacker; das neue Gesetz soll das ändern. In der Arbeitsagentur sagte man Sarkisian, als er das Anerkennungsschreiben mit dem bayerischen Löwenwappen zeigte, damit dürfe er nicht arbeiten. "Ich verstand das wieder nicht", sagt Sarkisian und blickt ratlos auf all die Mappen, Anträge, Bescheide vor sich auf dem Wohnzimmertisch. Es ist das Durcheinander jahrelangen Bemühens, in Deutschland anzukommen - als Mensch, der seinen Beruf ausüben darf.

Sarkisians Suche endete bei Carmen Schwend von der Servicestelle zur Erschließung ausländischer Qualifikationen in München. Ein Zufall, dass er sie fand. In ganz Deutschland gibt es nur zwei solche Einrichtungen, die Wissen über den Dschungel bündeln und Einwanderern erklären, wie sie ihn durchdringen können. Viel zu wenige. Das merkt Schwend daran, dass sie "mit Anfragen überrannt" wird, wie sie sagt. Gerade hat sie ein Beratungsgespräch abgeschlossen, da findet sie bereits ein Dutzend neue Anfragen auf dem Anrufbeantworter. Die Regierung plant, mehr sogenannte Erstanlaufstellen zu schaffen.

Schwend konnte Sarkisian beruhigen, als er, ziemlich verzweifelt, vor ihr saß: "Natürlich dürfen Sie mit der Anerkennung als Ingenieur arbeiten", sagte sie - in der Arbeitsagentur hatten sie sich schlicht getäuscht. Sarkisians letzte Berufserfahrung lag wegen all der Anträge und Warterei schon eine Weile zurück. Um fit zu werden für seinen ersten deutschen Arbeitgeber besuchte er eine Fortbildung, erlernte ein neues Programm, um Motoren zu bauen. Bis Ende 2010.

Seitdem bewirbt er sich. Seitdem wird die Klarsichtfolie mit den Absagen immer dicker. "Ob ich zu alt bin?", fragt Sarkisian. Seine Schläfen sind ein wenig grau, ja, aber dafür weist er auch neun Jahre Berufserfahrung auf - unter anderem bei den Vereinten Nationen. Und Stellenausschreibungen, die zu seinem Profil passen, findet er genug.

"Es ist nicht zu verstehen", sagt Schwend, die fast alles tut für ihre Schützlinge. "Er hat wirklich alles getan, was möglich ist." Sie vermutet, dass das Problem nicht er ist. Sondern das Denken, das in deutschen Unternehmen vorherrscht. Dort werden nicht die besonderen Qualitäten eines Menschen wie Sarkisian beachtet; nicht, dass er fünf Sprachen spricht und einiges an Durchhaltevermögen bewiesen hat. Gesehen wird seine Andersartigkeit: Der Abschluss ist anerkannt, ja, aber unbekannt. "Das führte bisher häufig zu einer ungerechtfertigten Abwertung", sagt Günter Lambertz vom Deutschen Industrie- und Handelskammertag (DIHK). Viele Personaler warten lieber ein wenig, hoffen, dass sich doch noch ein Absolvent einer renommierten deutschen Universität meldet.

Eine mögliche Lösung? "Brückenmaßnahmen", sagt Schwend, wie in Kanada üblich: Ausländische Fachkräfte arbeiten eine Zeitlang als bezahlte Praktikanten, lernen die Firma kennen - es ist häufig der erste Schritt in den fremden Arbeitsmarkt. Der steht für Sarkisian noch aus. Wie viele Rückschläge kann ein Mensch aushalten, bevor er aufgibt? "Man muss kämpfen", sagt Sarkisian. Täglich schreibt er Bewerbungen.

Nur: Lust zu singen, die hat er nicht mehr. Sein Mikrofon steht neben dem Wohnzimmertisch, es hängt nach unten. Es sieht aus wie eine Blume, die dabei ist, zu verwelken.

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Quelle:
SZ vom 09.08.2011/holz
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