Ausbildung:Damit Jugendliche ihre Zukunft nicht wegwerfen

Ein Ausbilder erklärt einer Auszubildenden zur Mechatronikerin Montagearbeiten an einer Roboterhand

Manche Azubis benötigen intensive Betreuung, weil sie Schwierigkeiten mit den Inhalten der Lehre haben.

(Foto: imago/imagebroker)

Mit der Initiative "Vera" wollen ehemalige Führungskräfte verhindern, dass Auszubildende die Lehre abbrechen.

Von Gudrun Weitzenbürger

Hefte, Taschenrechner und Stifte liegen verstreut auf dem ovalen Holztisch in der Dachmansarde der Dachdeckerei Knodel in der Kreisstadt Germering im Westen von München. Hans-Joachim de la Camp brütet jeden Donnerstag mit den Auszubildenden Phillip Bartlitz und Thomas Markus über Mathe- und Fachkundeaufgaben. Wie stark dehnt sich eine Dachrinne bei 75 Grad Sonneneinstrahlung aus? Bei einer anderen Aufgabe soll die Anzahl der Ziegel für eine Dachfläche mit Aussparungen für Giebel und Fenster berechnet werden. Die Azubis profitieren von einer speziellen Art Nachhilfeunterricht, der ihnen helfen soll, die Lehre zu meistern.

Denn allzu viele Auszubildende brechen sie ab: So wurden laut Berufsbildungsbericht 2017 des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) bundesweit insgesamt 142 275 Ausbildungsverträge vor Ablauf der im Vertrag genannten Ausbildungszeit wieder aufgelöst. "Damit betrug die Vertragslösungsquote 24,9 Prozent", heißt es in dem Bericht. Manche Azubis verlassen allerdings nur ihren Betrieb und heuern dann woanders an. Allerdings setzt laut BMBF nur jeder Zweite seine Ausbildung in einem anderen Betrieb oder Beruf fort. Deshalb hätten viele junge Erwachsene keinen Berufsabschluss.

Doch worum geht es bei der Betreuung? "Wir wollen die jungen Leute befähigen, sich selbst zu helfen", sagt de la Camp, der beim TÜV Süd als Ingenieur Firmen beim Pipeline-Bau quer durch Alaska oder die Ostsee beraten hat und nun beim Senior Experten Service, kurz SES, als ehemalige Führungskraft Auszubildenden unter die Arme greift. "Zunächst war ich skeptisch", sagt der 21-jährige Bartlitz, einer der angehenden Dachdecker in der Dachdeckerei Knodel. "Kann jemand, der studiert hat, die Probleme eines Handwerkers verstehen?", erläutert der 21-Jährige seine Bedenken. Diese hätten sich jedoch mit Beginn des Unterrichts gelegt. Bartlitz schätzt vor allem, dass er die Erfahrung gemacht hat, durch Beständigkeit und Ausdauer seine Leistungen verbessern zu können.

Der SES gehört zur Stiftung der Deutschen Wirtschaft für internationale Zusammenarbeit und hat vor acht Jahren in Abstimmung mit dem Deutschen Industrie- und Handelskammertag, dem Deutschen Handwerkskammertag und dem Bundesverband der freien Berufe die Initiative "Vera" gegründet. Maßgeblich beteiligt war Rudolf Herwig, ehemaliger Geschäftsführer des Bayerischen Handwerkstags und heute Regionalkoordinator der Initiative. Seine Arbeit macht er ehrenamtlich. "Wir werben in den Berufsschulen und den Betrieben für unser Konzept", sagt Herwig, der die Jugendlichen mit ihren Problemen nicht auf sich allein gestellt lassen will.

Das Angebot von Vera läuft für zwölf Monate, wird in ganz Deutschland angeboten und vom BMBF finanziell unterstützt. Im vergangenen Jahr gab es bundesweit 4800 Einsätze. Für Betriebe oder Auszubildende sind die Angebote kostenlos. "Die Ausbildungsbegleiter werden an zwei Tagen in einem Einführungsseminar in Fragen der Pädagogik, Jugendpsychologie und in rechtlichen Grundlagen geschult", erklärt Herwig die Vorgehensweise. "Dabei lernen sie auch, wo die Grenzen der Initiative liegen."

Die duale Ausbildung ist ein Aushängeschild der deutschen Wirtschaft

Denn die Mentoren können nicht als juristische Berater in Streitfragen agieren, keine Drogenprobleme von Azubis lösen und auch keinen Nachhilfeunterricht in deutscher Sprache für Auszubildende mit Migrationshintergrund anbieten. In der Regel sind es die jungen Menschen selbst - oder die Chefs und Ausbilder der Betriebe, die sich bei der Initiative melden, wenn sie merken, dass etwas nicht rund läuft bei ihren Auszubildenden. Manchen geht es einfach darum, ihren Lehrlingen einen besonders guten Abschluss zu ermöglichen.

Die duale Berufsausbildung ist ein internationales Aushängeschild der deutschen Wirtschaft. Doch nur noch jeder fünfte Betrieb bilde aus, die Qualität der Ausbildung schwinde in vielen Bereichen, klagt der Deutsche Gewerkschaftsbund ( DGB) in seinem Ausbildungsreport 2017. Beinahe 60 Prozent der Azubis kämen krank zur Arbeit, da ein Drittel regelmäßig Überstunden mache, und Druck seitens der Arbeitgeber aufgebaut werde. Die Betreuung durch das Ausbildungspersonal sei nicht immer sichergestellt. Bei jedem zehnten Auszubildenden fielen häufig ausbildungsfremde Tätigkeiten an, heißt es in dem Report. Zudem würden die Betriebe überwiegend Abiturienten einstellen, klagt der DGB. Damit auch Hauptschüler eine Chance auf eine Ausbildung bekommen, setzt auch der DGB auf assistierte Aus- und Weiterbildung, die die Betriebe beim Arbeitsamt beantragen können. Die Unterstützer wollen Jugendliche motivieren, sie in ihrem sozialen Umfeld stärken und ihre Ausdrucksfähigkeit verbessern.

"Die Motivation ist nicht da"

Auch die Berufsschulen sind in dieser Hinsicht gefordert. Als Schwerpunkt im diesjährigen Ausbildungsreport schneiden sie nicht besonders gut ab. "Nur die Hälfte der befragten Auszubildenden fühlt sich durch den Besuch der Berufsschule gut auf die theoretische Prüfung vorbereitet", sagt Manuela Conte, Bundesjugendsekretärin des DGB. Conte fordert, dass die Abstimmung zwischen Betrieb und Berufsschule besser verzahnt und im Berufsbildungsgesetz festgeschrieben werden müsse. Die Kultusminister müssten ihre Politik ändern und "mehr Geld in Lehrmittel und personelle Ausstattung investieren", sagt Conte.

Am Berufskolleg Deutzer Freiheit in Köln werden jährlich circa 200 Kaufleute im Büromanagement und bis zu 130 Industriekaufleute ausgebildet. Die Kaufleute gehören zu einer Branche, die im Ausbildungsreport eher gut abschneidet. So haben auch am Kölner Kolleg alle Azubis ihre Prüfung bestanden. "Wir setzen Ausbilderarbeitskreistreffen fest", erklärt Monika Schmitz, Bildungsgangleiterin der Stadt Köln am Berufskolleg, ihr Erfolgsrezept. "Hier informieren wir über Ausbildungsinhalte, und anders herum können Ausbilder aus den Betrieben ihre Anliegen äußern." Das Berufskolleg macht in diesen Tagen darauf aufmerksam, dass der Unterricht in Englisch wegen der Schüler mit Migrationshintergrund nicht auf dem gewohntem Niveau stattfinden könne und dass Betriebe monierten, die Schulbücher entsprächen leider nicht dem aktuellen Stand. "Da können wir dann zwar nicht sofort mit neuen Büchern, aber mit aktualisierten Datenblättern aushelfen", verspricht Monika Schmitz.

Auch Branchen, in denen es nicht so rund läuft - das sind zum Beispiel das Lebensmittelhandwerk, zahnmedizinische Berufe oder die Baubranche -, könnte ein solches Modell helfen. Diese Termine des gegenseitigen Kennenlernens seien wichtig, um ein gutes Ausbildungsniveau zu halten, sagt Schmitz. Aber leider nähmen nur die größeren Betriebe mit professionellen Ausbildern sie wahr. "Insbesondere die kleineren Betriebe müssen den Austausch zwischen Schule und Ausbildungsstätte ernster nehmen", mahnt Schmitz. Oftmals stimme einfach die Kommunikation nicht.

Bis Bildungspolitiker handeln und die Bedingungen für Schule und Betriebe optimal sind, setzt Ausbildungshelfer de la Camp seine Arbeit da fort, wo sie gebraucht wird: bei den Jugendlichen selbst. "Viele kommen von der Hauptschule, haben vielleicht eine Lernschwäche, Probleme mit der Mathematik, und ihnen fehlt es an Initiative", sagt der ehemalige Ingenieur. "Die Motivation ist nicht da, sie denken an ihren Führerschein, den sie gerade machen oder haben Ärger mit ihrer Freundin." Während sein Schützling Thomas Markus sich über den Beistand seines Vaters freut, der ihn moralisch unterstützt, hätten viele andere nicht den nötigen Halt innerhalb der Familie.

Die meisten der Auszubildenden seien zwar mit ihrer Ausbildung zufrieden, stellt der DGB in seiner Studie fest, es gebe jedoch Unterschiede zwischen den Branchen. Industriekaufleute beispielsweise oder Mechatroniker klagten kaum, Verkäufer in der Lebensmittelbranche, Maler, Zahnarzthelferinnen oder Hotel- und Gaststättenauszubildende bewerteten ihre Betriebe jedoch als mangelhaft. Es sind dann auch genau diese Branchen, "die über Azubi-Mangel klagen, die seit Jahren für ihre schlechten Ausbildungsbedingungen bekannt sind", sagt Conte.

De la Camp betreut derzeit vier Auszubildende jeweils zweimal die Woche ohne Entgelt in seiner Freizeit als Ruheständler. Warum er das macht? Der Rentner mit den wachen Augen und dem drahtigen Aussehen hat das Gefühl, etwas Sinnstiftendes zu tun, er möchte, "dass diese Jugendlichen einen Beruf erlernen und ein Zeugnis in der Hand haben, mit dem sie etwas anfangen können". Er könne nicht mit ansehen, dass Jugendliche ihre Zukunft wegwerfen, und will, dass sie sich in die Gesellschaft integrieren, so sein Anspruch.

Thomas Markus sagt, de la Camp sei für ihn ein Vorbild, Phillip Bartlitz freut sich, dass ein Freund von ihm unlängst seine Prüfung abgelegt hat: "Das spornt mich an." Beide werden von der Dachdeckerei Knodel nach ihrer Lehrzeit übernommen. Für die beiden ist alles gut gegangen.

Nähere Informationen finden sich unter dem Link http://vera.ses-bonn.de

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