Süddeutsche Zeitung

Ausbildung:Die Mär der leeren Lehrstellen

Die Zahl der Schulabgänger sinkt, doch das bedeutet nicht, dass überall Stellen unbesetzt bleiben.Die demographische Entwicklung hilft nur dem Osten - den westdeutschen Arbeitsmarkt rettet sie nicht.

Felix Berth

Den Satz hat man schon hundertfach gehört: Wegen der demographischen Entwicklung wird auf dem Arbeitsmarkt bald alles besser. Solche Prognosen gab es in Westdeutschland, als die Zahl der Arbeitslosen erstmals über eine Million stieg (1976), als sie über zwei Millionen stieg (1983) und als sie über drei Millionen stieg (2006). Doch seltsam, das Wunder fand nicht statt. Entgegen vieler Prognosen, die mit demographischen Trends hantierten, blieb die Massenarbeitslosigkeit in Deutschland erhalten. Nie schien der Arbeitsmarkt sich so zu verhalten, wie es die Demographie erwarten ließ.

Derzeit gibt es wieder ein paar Signale, die sich als Entspannung deuten lassen. In Ostdeutschland sind Tausende Lehrstellen unbesetzt; wer dort zum Beispiel eine - normalerweise sehr beliebte - Ausbildung zum Kfz-Mechatroniker machen will, hat oft freie Auswahl. Das wird doch, so könnte man annehmen, im Westen bald auch so sein. Außerdem sagt eine neue Prognose für das Jahr 2018, allerspätestens aber für 2025 einen landesweiten Facharbeitermangel voraus. Ist das endlich, endlich der Segen der demographischen Entwicklung?

Im Osten kann man diese Frage bejahen - aber nur dort. In den neuen Bundesländern kamen nach 1992 kaum noch Kinder zur Welt: Die Geburtenrate sank auf 0,8 Kinder pro Frau. Das ist der niedrigste Wert, der jemals für Deutschland berechnet wurde. Und die wenigen Kinder, die damals geboren wurden, können sich heute den Ausbildungsplatz aussuchen (und werden dabei bald erleben, dass Firmen die winzigen ostdeutschen Lehrlingsgehälter aufbessern, weil sonst nicht einmal zum Bewerbungsgespräch noch jemand kommt). Doch das ist ein Phänomen des Ostens.

Im Westen sinkt die Zahl der Schulabgänger zwar auch, aber sie sinkt gemächlich. Und weil fast alle demographischen Trends viel langsamer sind, als man normalerweise annimmt, können sich alle Beteiligten anpassen. Das gilt für die Alterung der Gesellschaft genauso wie für das Schwinden der jungen Generation. Ein Firmenchef im Schwäbischen, der im Jahr 2010 von acht Lehrstellen nur sieben besetzen kann, wird es ein Jahr später vielleicht noch mal mit acht Angeboten versuchen. Klappt das wieder nicht, wird er in seinem Unternehmen etwas ändern: Ungelernte qualifizieren, Migranten anwerben, mehr Technik einsetzen oder Ähnliches.

Solche Reaktionen unterschätzt man, wenn man die heutigen Zahlen einfach in die Zukunft projiziert. Das gilt auch für den angeblichen Facharbeitermangel im Jahr 2018 oder 2025: Schon möglich, dass es den geben wird - doch die nächste Wirtschaftskrise kann den demographischen Effekt locker aushebeln. Und bestimmt werden die vielen Akteure der Gesellschaft in den Jahren zwischen 2010 und 2017 einiges tun, um den Fachkräftemangel im Jahr 2018 zu verhindern. Das zeigt: Wer nur auf ferne demographische Daten starrt, droht die nahe Zukunft aus dem Blick zu verlieren.

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SZ vom 06.08.2010/holz
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