Der silberfarbene Ford C-Max hängt zwei Meter hoch in der Luft, direkt über seinem Genick. Curtis trägt Ohrstöpsel und gelbe Arbeitshandschuhe, der Hydraulikschrauber in seiner Faust surrt. Er legt den Kopf in den Nacken, gleich wird es krachen, wenn er die Hinterachse festzieht. "Na, Curtis?", fragt der Geselle. "Läuft", sagt Curtis.
Eine Werkstatthalle in Hamburg-Barmbek, Männer in grauer Kluft zwischen aufgebockten Autos, Werkzeugbänken und Stapeln mit Ersatzteilen: Das ist der Ort, an dem Curtis Sander, 18, erwachsen werden soll. Wenn man denn die Lehre so sieht, wie sie einst gedacht war, seit ihren Anfängen im Mittelalter, als sich die Berufsstände und Zünfte herausbildeten und mit ihnen eine besondere Tradition der Weitergabe von Wissen: vom Meister auf den Lehrling. Als Kind in die Lehre, als Geselle auf Wanderschaft, bevor man selbst Meister werden durfte.
Das mit der Walz ist heute Folklore, auch sonst verläuft das Leben eines Lehrlings im 21. Jahrhundert etwas prosaischer, auch im Autohaus Hermann Claaßen. Im Kern jedoch sind es für den Kfz-Mechatronik-Azubi Curtis die gleichen Aufgaben geblieben, wenn er wie an diesem Morgen nach dem Schrauben die Muttern überprüft: Er soll zuschauen und nachmachen, er soll ausprobieren und den Gesellen zur Hand gehen, und wenn alles gut geht, hält er im Frühjahr 2022 den eigenen Gesellenbrief in der Hand.
Halbherzig schrieb Curtis Bewerbungen und bekam nur Absagen
Dass es so weit kommt, hätte Curtis noch vor Kurzem selbst kaum glauben können, denn seine Geschichte ist auch die Geschichte eines in die Krise geratenen dualen Ausbildungssystems und von den Anstrengungen der Politik, einen Ausweg zu finden. Curtis erzählt sie im Pausenraum der Werkstatt, an einem schmucklosen Furnierholztisch, und er erzählt in einer Tonlage, als habe sie wenig mit ihm zu tun.
Eigentlich hatte Curtis Abitur machen wollen. Er wusste zwar nicht, was er danach machen sollte, aber das war der Plan. Bis ihm seine Lehrer auf der Stadtteilschule kurz vor Ende der zehnten Klasse eröffneten, dass das nichts wird. Schuld sei seine Deutschnote, sagten sie. Und so brauchte Curtis, damals 16, plötzlich einen Ausbildungsplatz. Das war im Mai, und das Ausbildungsjahr startete am 1. August.
Halbherzig schrieb er ein paar Bewerbungen, bekam eine Absage nach der anderen. Oder gar keine Antwort. Vielleicht lag es daran, dass schon alle Lehrstellen besetzt waren. Vielleicht verrieten ihn auch seine Bewerbungsschreiben. Doch wie sollte er sicher sein, was das Richtige für ihn ist?
Der 1. August kam, und es blieb dabei: Curtis fand keinen Platz. Innerhalb von drei Monaten war aus dem angehenden Abiturienten ein Problemfall geworden. Zumindest reden Politiker und Journalisten so, wenn sie die fast 300 000 schulpflichtigen Jugendlichen meinen, die jedes Jahr ohne Ausbildungsplatz bleiben. Die im sogenannten Berufsvorbereitungsjahr landen, im "Übergangssektor", wie der Nationale Bildungsbericht ihn nennt. Die dort "geparkt werden", wie Kritiker es formulieren, bis ihre Schulpflicht endet.
Fest steht: Viele dieser Jugendlichen werden ihr Leben lang keine Berufsausbildung abschließen, 2016 hatten 14,5 Prozent der 25- bis 34-Jährigen keinerlei Berufsabschluss. Und das in Zeiten, in denen Unternehmen klagen, dass ihnen die Azubis fehlen. Die Berufsbildungsforscherin Susan Seeber von der Universität Göttingen kritisiert, dass die meisten Firmenchefs sich den Kopf zerbrächen, wie sie noch mehr Abiturienten anlocken können, um die Lücken zu stopfen. "An die Jugendlichen am unteren Rand denkt kaum einer."
Die Zahlen waren auch in Hamburg so erschreckend, dass Bildungssenator Ties Rabe (SPD) sie noch heute aus dem Stegreif aufsagen kann: Nur einer von vier Hamburger Schulabgängern schaffte es 2012 nach der zehnten Klasse in eine Ausbildung. Die anderen 75 Prozent kamen ins Berufsvorbereitungsjahr. Das sollte sie im zweiten Anlauf fit machen, doch gelang der direkte Übergang in eine Lehre danach gerade mal bei zehn bis 20 Prozent der Teilnehmer. "Eigentlich ein Skandal", sagt Rabe.