Aufstieg durch Bildung:Studieren, nein danke

Immer mehr Abiturienten könnten studieren, machen aber lieber eine Ausbildung. Jugendliche ohne Abitur hingegen werden von den Unternehmen verschmäht. Das vergrößert die soziale Ungerechtigkeit - und muss sich ändern.

Sebastian Gallander

In den 1960er Jahren stand der Westen noch unter dem "Sputnik-Schock" und befürchtete, technologisch hinter den Ostblock zurückzufallen. Zugleich wuchs damals das Bewusstsein für die Idee des Soziologen Ralf Dahrendorf, dass Bildung ein Bürgerrecht sei und alle Menschen die gleichen Aufstiegschancen haben sollten. Schließlich wurde die sogenannte Bildungsexpansion gestartet - eine Reihe von Reformen, die zu einer höheren Bildung aller Bevölkerungsteile führen sollten. In Berlin wurde eine Studie vorgestellt, die untersucht hat, welche Veränderungen seitdem erreicht werden konnten. Die Ergebnisse zeigen: Der Weg ist höchstens bis zur Hälfte geschafft.

Der Anteil der Jugendlichen, der eine Hochschulzugangsberechtigung erreicht, ist zwar drastisch angestiegen. Der Anteil der Jugendlichen, der dann tatsächlich studiert, hat sich jedoch nicht so stark erhöht; bei den Jugendlichen aus bildungsfernen Elternhäusern ist er sogar deutlich gesunken. Zugleich, so die Studie, müssen die Jugendlichen immer häufiger Abitur haben, um überhaupt einen Ausbildungsplatz zu bekommen.

Bildlich gesprochen: Viele Jugendliche sind auf der sozialen Leiter eine Etage nach oben geklettert, denn sie haben eine Studienberechtigung erworben. Diejenigen von ihnen, die am untersten Ende der Leiter gestartet sind, klettern dann aber nicht mehr weiter mit durch die Luke "Studium" in die nächsthöhere Etage. Sie gehen stattdessen nun von oben durch die Luke "Berufsausbildung". Die Jugendlichen, die von unten durch diese Luke klettern müssen, weil sie eben "nur" einen mittleren Schulabschluss vorweisen können, haben es nun noch schwerer. Insgesamt hat sich die soziale Ungleichheit also nicht verringert, sondern eher vergrößert.

Dies schadet dem inneren Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Es schadet aber auch der Wirtschaft.

Die Wirtschaft braucht, nach Berechnungen der Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg, aufgrund des demografischen Wandels bereits im Jahr 2025 rund 6,5 Millionen neue Fachkräfte. Diese können nicht alle aus dem Ausland angeworben werden. Deshalb sollten wir das vorhandene Potenzial der Jugendlichen viel besser nutzen.

Hierzu zählen gerade auch die vielen Jugendlichen aus bildungsfernen Elternhäusern. Diejenigen von ihnen, die eine Hochschulreife erwerben, sollten stärker dabei unterstützt werden, dann auch tatsächlich zu studieren, denn gerade bei den Hochschulabsolventen liegt Deutschland, laut der OECD, weit hinter den anderen Industrieländern zurück. Hierfür sollten sich Lehrer und Berufsberater zusammen mit den Hochschulen und den Unternehmen stark machen: Sie sollten gerade diese Jugendlichen viel stärker zu einem Studium ermuntern und ihre Eltern von den Vorteilen überzeugen. Dennoch gilt: Die Schulabgänger mit Hochschulreife zum Studieren zu bewegen, ist nur ein Teil der Herausforderung.

Die Jugendlichen, die keine Hochschulreife erwerben, haben es heute besonders schwer, einen Ausbildungsplatz zu bekommen: Laut Berufsbildungsbericht 2012 konnten im letzten Jahr zwar gut 530.000 Schulabgänger eine Lehrstelle antreten, fast 300.000 Jugendliche landeten jedoch im sogenannten Übergangbereich, einer Art staatlich geförderten Warteschleife. Von diesen Jugendlichen waren rund 20 Prozent Schulabbrecher; die überwältigende Mehrheit jedoch hatte einen Haupt- oder Realschulabschluss.

Besonders prekär ist ganz offensichtlich die Situation bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Sie stellen zwar einen großen Teil der Schüler in Deutschland, doch nur wenige von ihnen machen eine Berufsausbildung.

Nur eine Minderheit der Unternehmen, so eine aktuelle Umfrage des Bundeswirtschaftsministeriums, ist bereit, die Anforderungen an die schulischen Qualifikationen der Bewerber zu senken oder gezielt Jugendliche mit Migrationshintergrund anzusprechen. Die Mehrheit von ihnen hat nach der Umfrage jedoch bereits heute Probleme, geeignete Auszubildende zu rekrutieren. Deshalb sollte die Wirtschaft jetzt stärker aktiv werden.

Die Akademiker fehlen

Unternehmen in ganz Deutschland sollten gleich mit den Schulen zusammenarbeiten, um die Jugendlichen frühzeitig für die Arbeitswelt fit zu machen - durch Berufsorientierung, Praktika und Mentoren-Programme. Zudem sollten mehr Unternehmen auch den Jugendlichen, die "nur" einen mittleren Schulabschluss haben, die Chance auf einen Ausbildungsplatz geben und sie gerade im ersten Lehrjahr durch zusätzliche Schulungen und Coachings unterstützen. Einige Unternehmen handeln hier bereits vorbildlich. Doch es sollten noch viel mehr werden.

Die für Deutschland typische duale Berufsausbildung ist ein beispielloses Erfolgsmodell, um das uns viele Länder beneiden. Gerade deshalb sollten ja auch die jungen Menschen davon profitieren können, die von der Haupt- und Realschule kommen. Zugleich sollten mehr von den Schulabgängern, die studieren könnten, dies dann tatsächlich tun.

Natürlich sind die Anforderungen an viele Ausbildungsberufe gestiegen, doch es soll ja auch nicht jeder Schulabgänger jeden Beruf ergreifen können. Genauso wenig soll ja auch jeder Jugendliche studieren, nur weil er edie Hochschulreife erworben hat.

Wenn wir uns die Wirtschaft einmal als Großbaustelle vorstellen, dann sehen wir da - stark verkürzt ausgedrückt - momentan einfach genügend (gut ausgebildete) Elektriker, aber zu wenig Ingenieure und zu viele Hilfsarbeiter. Deshalb sollten wir künftig ein paar mehr von den Schulabgängern mit Hochschulreife dabei unterstützen, eben nicht eine Lehre zu beginnen, sondern ein Studium. Und den Jugendlichen, die sich als Hilfsarbeiter verdingen müssen, sollten wir stärker dabei helfen, eine Lehrstelle zu bekommen.

Die 1960er Jahre sind zwar vorbei und wir müssen keinen Ostblock mehr fürchten und auch nicht mehr für Bildung als Bürgerrecht kämpfen. Aber heute steht Deutschland im globalen Standortwettbewerb, während innerhalb unserer Gesellschaft die Kluft zwischen arm und reich wächst. Deshalb sollten Politik und Wirtschaft nun dringend die zweite Stufe der Bildungsexpansion starten. Deutschland darf kein Kind zurücklassen.

Der Kommunikationswissenschaftler Sebastian Gallander leitet das Projekt "Soziale Mobilität" der Stiftung Neue Verantwortung in Berlin.

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