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Architekturstudium:Wie wollen wir wohnen?

Schon immer hatten Architekten das Ziel, das Leben der Menschen angenehmer zu machen. Doch inzwischen haben sich ihre Ausbildung und die beruflichen Anforderungen an sie starkt geändert.

Von Rebekka Gottl

Die Kapelle wirft einen Schatten auf die umliegende Wiese, fast so, als handle es sich um eine Fotografie. Ein Bild zeigt das Gebäude von oben, auf einer Lichtung, die von hochgewachsenen Bäumen umgeben ist. Ein anderes ermöglicht den Blick ins Innere, vom Eingang bis zum Altar. Auf dem dritten ist der bepflanzte, runde Vorplatz zu sehen. Allerdings wurde das Gebäude nicht fotografiert, sondern am Computer erstellt. Die Visualisierungen sind Teil eines Architektenentwurfs, werden ergänzt durch eine kurze Konzeptbeschreibung und Skizzen, die den Aufbau der Kapelle verdeutlichen.

"Obwohl das Ergebnis nur so groß ist wie ein Poster, steckt unglaublich viel Zeit und Hirn in dem Entwurf", sagt Alexander Stein. Der 24-Jährige studiert Architektur im siebten Semester an der Technischen Universität Darmstadt. Damit ist er nach Angaben des Statistischen Bundesamts einer von ungefähr 52 000 Studierenden der Fächer Architektur, Innen- und Landschaftsarchitektur und Stadtplanung an deutschen Hochschulen.

Die Nachfrage nach Architekten ist hoch. "Vor zehn Jahren waren die Anzeigenblätter voll mit Anstellungsgesuchen", sagt Tillman Prinz, Geschäftsführer der Bundesarchitektenkammer. Heute hingegen würden Architekturbüros händeringend nach Mitarbeitern suchen. Das liegt unter anderem an der wirtschaftlichen Lage. Wo viel gebaut wird, sind viele Architekten nötig. Laut einer kürzlich veröffentlichten Statistik der Bundesarchitektenkammer sind mehr als 138 000 Architekten und Stadtplaner in den Kammerlisten der Länder eingetragen. Die meisten sind angestellt oder verbeamtet. Und mit circa 65 Prozent arbeiten deutlich mehr Männer als Frauen in dem Beruf.

Stein möchte sich nach seinem Abschluss selbständig machen, sein Ziel ist ein eigenes Büro. Architekt darf er sich nach dem Studium allerdings noch nicht nennen, die Berufsbezeichnung ist gesetzlich geschützt. "Wie der Arzt oder der Rechtsanwalt ist auch der Architekt ein klassischer Kammerberuf", erklärt Prinz. "Architekten greifen mit ihrer Arbeitsleistung nicht nur stark in das Leben der Bauherren ein, sondern auch in das der Mieter und Bürger." Daher müssen neben dem Hochschulabschluss zwei Jahre Berufserfahrung nachgewiesen werden, um in die jeweilige Landeskammer aufgenommen zu werden. Die Berufsbezeichnung ist vergleichbar mit einem Gütesiegel, das die Qualifikation sicherstellt. Ein Bauvorhaben sei eben kein Auto, bei dem man sich die Qualität der Ledersitze im Vorhinein anschauen könne, sagt Prinz. "Bei einer Planungsleistung zeigt sich oft erst nach Jahren, ob sie gut gemacht ist oder nicht." Stein, der neben seinem Studium bereits in einem Architekturbüro arbeitet, kann die Anforderungen nachvollziehen: "Nach der Uni kann man entwerfen, aber ein Haus bauen kann man nicht." Im Studium würden die Herangehensweise an Projekte vermittelt und ein freier, unvoreingenommener Blick gelehrt. Mit wirtschaftlichen Faktoren, rechtlichen Grundlagen und der konkreten Bauausführung komme man jedoch erst im Arbeitsalltag in Kontakt.

Laut Prinz haben sich die Anforderungen an Berufstätige gewandelt. Dabei bringt nicht nur die Digitalisierung Veränderungen mit sich, auch Themen wie Nachhaltigkeit, Energieeffizienz, Barrierefreiheit und ressourcenschonendes Bauen rücken vermehrt in den Fokus. Die Idee, weshalb man Architektur studiert, sei jedoch dieselbe geblieben. "Sie ist nach wie vor auf die Formel zu bringen: Ich möchte diese Welt besser machen", sagt Prinz. Aufgrund der Wohnungsknappheit in den Städten haben sich viele Architekturbüros auf den bezahlbaren Wohnungsbau spezialisiert. Man beschäftigt sich mit neuen Wohnformen wie Tiny Houses, Generationenhäusern sowie sozial und funktional gemischten Quartieren.

Eine der Kernfragen, mit denen sich Studenten praxisnah befassen, heißt: "Wie wollen wir wohnen?" Neben klassischen Vorlesungen zur Architekturgeschichte, aber auch zur Bauphysik, Tragwerkslehre oder Baustoffkunde, die technisches Basiswissen vermitteln, bearbeiten sie jedes Semester ein oder zwei Entwürfe. So hat Stein bereits das Konzept einer Vinothek erstellt, einen Anbau für ein Haus in Darmstadt entworfen und am Modell eines Pferdehofs gearbeitet. "Oft machen wir kleine Exkursionen zu den Projektorten in der Region, um uns inspirieren zu lassen", sagt Lisa Böttiger. Die 22-Jährige, die im siebten Semester Architektur an der Hochschule Coburg studiert, findet den Praxisbezug wichtig. Neben dem Studium hat sie ein vorgeschriebenes Praktikum auf einer Baustelle gemacht. "Ich war richtig baff, als ich von einigen Bachelor-Absolventen hörte, dass sie noch nie auf der Baustelle standen", sagt die Studentin. Sie fand es lehrreich, zu sehen, wie die am Computer entworfenen Modelle und Zeichnungen praktisch umgesetzt werden.

Trotz gleicher Vorgaben für alle würden die Ergebnisse meist sehr unterschiedlich ausfallen, sagt Stein. Der 24-Jährige arbeitet meist gemeinsam mit Kommilitonen an den Projekten. "Du kannst der kreativste Mensch sein, die optimale Lösung wirst du allein nicht finden, sondern nur im Gespräch mit anderen", erklärt er. Zusammenarbeit ist später im Beruf auch zwischen den einzelnen Fachrichtungen wichtig, zu denen etwa Hochbau-, Innen- und Landschaftsarchitektur gehören.

Spezialgebiete der Architektur

Unter dem Sammelbegriff "Architektur" sind vier Fachrichtungen zusammengefasst: Architektur, Innenarchitektur, Landschaftsarchitektur und Stadtplanung. Da die Berufsbezeichnungen gesetzlich geschützt sind, dürfen sich nur diejenigen so nennen, die in den jeweiligen Kammerlisten der Bundesländer eingetragen sind. Voraussetzungen dafür sind ein mindestens vierjähriges, abgeschlossenes Studium an einer Universität, Fachhochschule oder Akademie sowie zwei Jahre Berufserfahrung. Studierende spezialisieren sich bereits mit der Wahl des entsprechenden Studiengangs. Unter Architekten und Stadtplanern stellen die Hochbauarchitekten mit einem Anteil von knapp 85 Prozent die größte Berufsgruppe. Als Berater des Auftraggebers sind sie für die gestaltende, technische und wirtschaftliche Planung von Bauwerken zuständig. Innenausbau, Einrichtung und Ausstattung der Gebäude zählen wiederum zu den Aufgaben von Innenarchitekten. Da Sanierungen, Modernisierungen oder Erweiterungen bauliche Änderungen erfordern können, arbeiten sie eng mit Hochbauarchitekten zusammen. Mit knapp fünf Prozent sind in etwa so viele Innen- wie Landschaftsarchitekten in der Bundesarchitektenkammer vertreten. Deren Leistungsspektrum umfasst unter anderem die Freiraumplanung von Park- und Gartenanlagen, Straßenräumen, Fußgängerzonen und Freibädern. Stadtplaner hingegen widmen sich der Stadtentwicklung und -qualität sowie der infrastrukturellen Vernetzung. Weiterbildung spielt in der Branche eine große Rolle. Besonders nachgefragte Themen sind Wettbewerbsrecht, Kostenplanung, Brandschutz, Energieeffizienz, Barrierefreiheit und Sicherheit am Bau. Die Architektenkammern veranstalten etliche Fortbildungsseminare, aber es gibt darüber hinaus zahlreiche andere Anbieter. Rebekka Gottl

Seit der Bologna-Reform, der Einführung von Bachelor und Master, dürfen die Universitäten den Namen des Studiengangs frei wählen. Die Fachrichtung ist dadurch nicht immer deutlich erkennbar. Statt Innenarchitektur sei die Rede beispielsweise von "Lighting Design and Structural Engineering". Und Stadtplanung werde zum Beispiel unter "Urban Development, Sustainability and Architecture" geführt, sagt Prinz. Abiturienten rät er, sich mit den Studieninhalten gründlich auseinanderzusetzen und von der Architektenkammer beraten zu lassen. Denn auch die Aufnahmebeschränkungen der Hochschulen variieren. Während Böttiger an der Hochschule Coburg eine Eignungsprüfung absolvierte, erhielten an der TU Berlin im Wintersemester 2018/19 alle Bewerber mit einer Abitur-Abschlussnote bis 1,7 eine Zusage. An der Hochschule Düsseldorf lag der Numerus clausus im gleichen Semester indes bei 3,3.

Böttiger hat sich lange nicht zwischen den Studiengängen Architektur und Bauingenieurwesen entscheiden können. Prinz erklärt die Unterschiede der beiden Berufe: Während Architekten sich die Welt nach den Bedürfnissen des Bauherrn komplett neu erdenken, sei der Ingenieur für die Berechnung und konkrete Umsetzung des Konzepts zuständig. Von der Wasserversorgung in Wohnhäusern bis zur Tragfähigkeit von Brücken - der Bauingenieur sorgt für die Sicherheit der jeweiligen Konstruktion. Die Studentin hat sich letztlich wegen der Verbindung von Baukunst und Technik für das Architekturstudium entschieden. "Wegen des Geldes macht man den Beruf auf jeden Fall nicht", sagt sie. Besonders das Einstiegsgehalt von Architekten ist im Vergleich zu anderen akademischen Berufen niedrig. Nach Angaben des Portals Absolventa.de beträgt es für Masterabsolventen circa 34 000 Euro brutto im Jahr.

Stein gefällt vor allem die Vielfalt des Berufs. "Auch trockene konstruktive Probleme erfordern kreative Lösungen", sagt der Student. Nach diesem Grundsatz hat er auch die Kapelle gestaltet. Der Entwurf entstand im Rahmen eines studentischen Wettbewerbs. Nach mehrwöchiger Arbeit war er damit zufrieden, hat ihn eingereicht. "Im Planungsprozess gibt es kein absolutes Ende", erklärt er. Man könne stets Änderungen vornehmen. Auch deshalb wird der Entwurf oft digital visualisiert, statt ein Modell zu bauen.

In diesem Semester widmet sich der angehende Architekt seinem Abschlussprojekt, bei dem es um den Bau bezahlbarer Wohnungen geht. Im Studiengang Architektur gibt es die Besonderheit, dass ein großer Entwurf die geschriebene Bachelorarbeit ersetzt. Kaum hat er von seinem Abschlussprojekt berichtet, beginnt er von weiteren Ideen zu erzählen. Der nächste Wettbewerb für eine Sporthalle, sei bereits ausgeschrieben. Und die Branche befinde sich im stetigen Wandel, da wolle er nicht aus der Übung kommen.

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Quelle:
SZ vom 08.11.2019
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