Sechs Uhr abends. Obwohl der Arbeitstag laut Vertrag schon zu Ende ist, machen sich viele noch lange nicht auf den Weg nach Hause. Das Projekt muss fertig werden, die Besprechung hat gerade erst begonnen und das Telefon klingelt. Vielleicht ist der Kollege in Urlaub und dann muss seine Arbeit eben mit erledigt werden, irgendwie.
Immer Vollgas arbeiten? "Es ist die Frage, wie viele das durchhalten können", sagt Ernst-H. Hoff von der FU Berlin.
(Foto: Foto: photodisc)So sieht eine Arbeitswelt aus, für die Wissenschaftler den schönen Begriff der "Entgrenzung" gefunden haben. Unternehmen orientieren sich stärker am Markt und Kunden, bauen Hierarchien ab und setzen auf Gruppen- und Projektarbeit, führen flexiblere Arbeitszeiten und neue Beschäftigungsformen ein. Der moderne Mitarbeiter arbeitet solange und wann es die Arbeit erfordert oder steht als Selbstständiger rund um die Uhr auf Abruf zur Verfügung.
Die neuen Strukturen geben ihm zwar mehr Mitverantwortung und Gestaltungsmöglichkeiten und die Freiheit, früher zu gehen, wenn mal wenig los ist, aber sie haben auch Schattenseiten: "Die Beschäftigten können sich zwar mehr nach ihren Bedürfnissen orientieren, müssen sich aber auch nach dem Markt und den Kunden richten", sagt Nick Kratzer vom Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung (ISF) in München. Das setzt unter Druck: "Der Markt übt heute mindestens eine genauso große Gewalt aus wie früher der Vorgesetzte. Nur dass man mit ihm nicht verhandeln kann", sagt Kratzer. "Wenn es heißt: 'Die Firma geht pleite, wenn wir diesen Auftrag nicht bekommen oder dieses Projekt nicht rechtzeitig fertig wird', gibt es kein Argument dagegen."
Das heißt auf gut Deutsch: Mehrarbeit. Wie eine Untersuchung des Instituts Arbeit und Technik (IAT) in Gelsenkirchen zeigt, kommen viele Beschäftigte, die mit Arbeitszeitkonten arbeiten, gar nicht mehr dazu, diese einzulösen. "Auf Arbeitszeitkonten wird immer mehr strukturelle Mehrarbeit aufgebaut", sagt Thomas Haipeter vom IAT. "Wenn 100 bis 200 zusätzliche Stunden aufgelaufen sind, können das die Beschäftigten nicht mehr abbauen."
Dafür fehlt es schlicht an Personal: "Im Moment operieren die Unternehmen mit einer Personalpolitik der unteren Linie. Sie beschäftigen nur ein Minimum an Mitarbeitern. Schwankungen werden über die Arbeitszeiten abgepuffert", sagt Haipeter. Wenn die Vertretung fehlt, kann auch niemand ein Sabbatical nehmen, um seine Überstunden abzubauen.
In einigen Unternehmen landet die Mehrarbeit auf Langzeitkonten. "Sie können dann zum Beispiel für den Vorruhestand genommen werden", sagt Haipeter. Andere Arbeitgeber zahlen die Mitarbeiter aus. Und manchmal verfällt der Anspruch ab einem bestimmten Stellenwert automatisch. "Das ist vor allem dann wahrscheinlich, wenn für die Beschäftigten selbst die Arbeitszeit nur noch zweitrangig ist und es ihnen in erster Linie darauf ankommt, ihre Ziele einzuhalten - egal in welcher Zeit", sagt Haipeter.