Süddeutsche Zeitung

Arbeitsrechtler im Interview:"Wer klaut, gehört gekündigt"

Lesezeit: 4 min

Vier Maultaschen stibitzt und deshalb den Job verloren - ist das fair? Ja, sagt der Jurist Volker Rieble: "Auch wer nur fünf Cent stiehlt, muss rausgeschmissen werden."

Julia Bönisch

Das Arbeitsgericht Radolfzell befasst sich mit der fristlosen Kündigung einer Altenpflegerin, die in einem Pflegeheim abends vier Maultaschen mitgenommen hat, um sie selbst zu essen. Volker Rieble, Professor für Arbeitsrecht an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Direktor des Zentrums für Arbeitsrecht und Arbeitsbeziehungen, hält die Kündigung für rechtens. Er sagt: Wer klaut - auch wenn es sich nur um Centbeträge handelt - muss seinen Job verlieren.

sueddeutsche.de: Kündigungen wegen vermeintlicher Kleinigkeiten haben in den vergangenen Monaten für viel Aufmerksamkeit gesorgt. Heute etwa geht es vor Gericht um die Entlassung einer Altenpflegerin, die vier Maultaschen geklaut hat, um sie selbst zu essen. Herr Rieble, ist eine Kündigung wegen solch eines Vergehens wirklich gerechtfertigt?

Volker Rieble: Natürlich ist sie das! Soweit mir der Fall bekannt ist, argumentiert die Pflegerin so: Da sie noch zu einer betriebsinternen Fortbildung musste und keine Zeit für eine Fahrt nach Hause hatte, habe sie sich bei den Maultaschen bedient. Dabei ist es doch ihr Problem, wie sie ihren Alltag so organisiert, dass sie genug zu essen bekommt. Sie kann sich doch nicht einfach beim Arbeitgeber bedienen, nur weil sie Hunger hat!

sueddeutsche.de: Vier Maultaschen kosten das Pflegeheim nur ein paar Euro. Muss man deswegen wirklich jemanden vor die Tür setzen, oder hätte nicht auch eine Abmahnung gereicht?

Rieble: Eine Abmahnung ist keine ernstzunehmende Sanktion. Da reißt sich die Frau ein Jahr lang zusammen - und dann macht sie's wieder. Wenn wir solche Vergehen nicht ahnden, brechen Dämme, das Klauen schleift sich ein und es ist zum Kollegendiebstahl nicht weit. Sie gehen doch auch nicht an die Schublade ihrer Kollegin und nehmen sich einfach einen Schokoriegel heraus. Sie würden immer fragen - und genau das hätte die Altenpflegerin auch tun können.

sueddeutsche.de: Vermutlich hat sie sich gedacht, dass es schon in Ordnung sein wird.

Rieble: Jeder Arbeitnehmer weiß doch, dass ein Diebstahl zur fristlosen Kündigung führen kann. Warum nimmt sie die Maultaschen trotzdem? Ganz einfach: Weil sie glaubt, sie kommt damit davon, weil es schon keiner bemerken wird. Schärfer kann man Unrechtsbewusstsein doch gar nicht definieren.

sueddeutsche.de: Wie beurteilen Sie die anderen Fälle, die in der jüngsten Zeit für Aufregung gesorgt haben? Etwa den eines Mitarbeiters, der sein Handy am Arbeitsplatz aufgeladen hatte und wegen Stromklaus entlassen wurde.

Rieble: Hier fehlt der Vorsatz. Dem Mann war vermutlich gar nicht bewusst, dass er seinem Arbeitgeber schadet. Im Falle des Müllmannes, der das Kinderbett mitgenommen hat, sieht die Sache allerdings anders aus. Das Gericht hat entschieden, dass die Entsorgungsfirma den Mann wieder einstellen muss, doch das war meiner Ansicht nach eine krasse Fehlentscheidung. Der Arbeitnehmer wusste, dass er den Müll nicht mitnehmen durfte, er hat einer Anweisung zuwidergehandelt.

sueddeutsche.de: Der Müll gehört doch niemandem, die Firma hätte das Kinderbett nur vernichtet.

Rieble: Aber wir haben hier ein Verteilungsproblem: Wer von den Mitarbeitern soll denn den Müll bekommen - derjenige, der am schnellsten ist? Zudem hat die Firma den Auftrag, den Müll zu vernichten, und das sollte sie auch tun. Deshalb darf die Abfälle niemand mitnehmen.

sueddeutsche.de: Über den Fall der Pfandmarken und die Kassiererin Barbara E., genannt Emmely, haben Sie in der Neuen Juristischen Wochenschrift einen ausführlichen Artikel verfasst. Sie nannten die Frau darin eine "notorische Lügnerin", die auf ein "Sonderkündigungsrecht für Straftäter hinauswolle". Alle, die gegen ihre Kündigung protestieren, seien "empörungswillige Sozialromantiker".

Rieble: Die Gewerkschaften im Einzelhandel nutzen den Fall Barbara E. für eine Kampagne: Ihnen geht es darum, den letzten Hort der Pflichterfüllung im Arbeitsrecht zu schleifen. Die Öffentlichkeit schreit reflexartig auf, aber niemand hat sich wirklich mit dem Urteil beschäftigt. Dabei ist es doch ganz einfach: Stellen Sie sich vor, Ihre Putzfrau stiehlt bei Ihnen zu Hause fünf Euro. Die wollen Sie doch auch nicht weiterbeschäftigen - nicht, weil Ihnen die fünf Euro so weh tun, sondern weil Sie das Vertrauen in ihre Zuverlässigkeit verloren haben und sich vor künftigen Diebstählen schützen wollen. Genauso ergeht es Tengelmann. Hinzu kommt, dass Frau E. vor Gericht Falschaussagen gemacht und Kollegen belastet hat. Sie ist meiner Ansicht nach nicht Opfer, sondern Täter.

sueddeutsche.de: Die Medien haben oft auf eine große Diskrepanz hingewiesen: Hier Barbara E., die wegen 1,30 Euro ihren Job verliert - dort Klaus Zumwinkel, der Steuern hinterzogen hat, eine Bewährungsstrafe bekommt und noch Boni und Pensionszahlungen in Millionenhöhe einstreicht. Der Vorwurf lautet "Klassenjustiz".

Rieble: Das ist doch Quatsch. Da werden Äpfel mit Birnen verglichen. Strafrechtliche und arbeitsrechtliche Ahndungen sind grundverschieden. Es kann doch niemand ernsthaft behaupten, dass es in Ordnung wäre, nach 30 Jahren Tätigkeit mal etwas mitgehen zu lassen. So etwas wirkt sich fatal auf die Disziplin in Betrieben aus, das bedeutet: Feuer frei für Diebe! Dann sind wir auch irgendwann so weit, dass die Leute glauben, sie müssten gar nicht mehr richtig arbeiten.

sueddeutsche.de: Warum müssen sich Gerichte in jüngster Zeit so häufig mit Kündigungen nach Bagatelldelikten beschäftigen?

Rieble: In wirtschaftlich schweren Zeiten reagieren die Unternehmer schärfer auf Personaldiebstähle, weil die Verluste sie mehr schmerzen. Wir müssen bedenken, dass hinter jeder entdeckten Unterschlagung 100 nicht entdeckte stehen.

sueddeutsche.de: Das klingt nach einer Vorverurteilung der Mitarbeiter.

Rieble: Kriminologisch ist es doch ganz klar, dass es eine Dunkelziffer gibt. Das hat nichts mit Vorverurteilung zu tun.

sueddeutsche.de: Welche Reaktionen bekommen Sie auf Ihren Standpunkt?

Rieble: Nach meinem Artikel über den Fall Barbara E. bekam ich einige fäkal-fatale Hassmails, aber damit kann ich leben. Ich bin mir sicher, dass die schweigende Mehrheit meiner Meinung ist und findet, man muss nicht klauend durchs Leben gehen. Stellen Sie sich vor, die Frau hätte ihren Job zurückbekommen: Alle, die nicht klauen, kämen sich doch verhöhnt vor.

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