Arbeitsmarkt:Die Belegschaft der Heloten

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Großunternehmen gründen Zeitarbeitstöchter, um Gekündigte aufzufangen oder billiger einstellen zu können.

Von Hans-Herbert Holzamer

Martin May arbeitet beim Automobilhersteller BMW. Jeden Morgen tritt er zum Dienst an, wertet Zeitungen aus, recherchiert für den betriebseigenen Pressespiegel und liefert Beiträge für die Medien der internen Kommunikation. So steht es, neben anderem, in seinem Vertrag. Aber Herr May hat keinen Vertrag mit BMW. Er hat lediglich einen Vertrag über freie Mitarbeit, den er mit einer Kommunikationsagentur abschließen musste, um den Job bei BMW zu bekommen. Martin May, der im wirklichen Leben anders heißt, hat nicht einmal einen ordentlichen Zeitarbeitsvertrag. Er bekommt nur Geld, wenn er arbeitet.

Unter Punkt 2 heißt es in seinem Vertrag: "Auf ein Kalenderjahr bezogen wird das Auftragsvolumen voraussichtlich circa 1500 Arbeitsstunden betragen." Das entspricht der durchschnittlichen Arbeitsleistung eines Angestellten. Aber May ist kein Angestellter, er ist Helote. So nannten die Griechen die Volksscharen vermeintlich minderer Art und Güte. "Die Zahlung erfolgt monatlich gegen Rechnung und Stundennachweis", heißt es unter Punkt 3 in seinem Vertrag. Die Kündigung ist mit einer Frist von vier Wochen möglich. Da ist der gezahlte Stundensatz von 39 Euro nur ein geringer Schadensersatz für den Verzicht auf jedweden sozialen Schutz.

Beim Deutschen Gewerkschaftsbund kennt man diese Praxis und scheint resigniert zu haben. "Der Arbeitsmarkt erodiert", sagt DGB-Sprecher Hilmar Höhn, ohne Angaben zu machen, wie weit er schon zerfallen ist. Aber man muss sich nur umschauen. Er zerfällt in Verhältnisse freier Mitarbeit, in die so genannten Ich-AGs, in die PSAs, die Personal-Service-Agenturen, in Auffang-, Verleih- und Zeitarbeitsfirmen, von den ABMs in den neuen Ländern ganz zu schweigen. Allen gemeinsam ist, dass soziale Errungenschaften zum Teil in dramatischem Ausmaß abgebaut wurden.

Bei der HVB Group, der Hypovereinsbank, gibt es seit drei Jahren eine Tochter namens HVB Profil. Dahinter versteckt sich ein Personaldienstleister, der Mitarbeiter an die HVB Group und andere Firmen entsendet, als "flexibler Pool im mittleren Management", wie Geschäftsführer Karl-Heinz Haberkern es nennt. Immerhin schließt die HVB Profil richtige Anstellungsverträge ab, aber ihre Mitarbeiter sind deutlich billiger zu haben. 80 Prozent aller Neuanstellungen bei der Hypovereinsbank entfallen auf die Zeitarbeitstochter, erklärte Heinz Laber, Manager Human Resources der HVB Group, auf der Münchner Zeitarbeitsmesse Ende Oktober.

Wie man Mitarbeiter parkt

Die Hypovereinsbank steht nicht alleine da. Was bei ihr die HVB Profil ist, heißt bei der Dresdner Bank Persoflex. Auch Thomas Sattelberger, Personalvorstand der Continental, der sich schon frühzeitig mit der Entwicklung von Belegschaften befasst hat, bestätigt, dass seine Firma "eine zweite Belegschaft aufbaut".

Die Deutsche Telekom hat knapp 10.000 Mitarbeiter in der Beschäftigungsgesellschaft Vivento untergebracht, für die nach dem "Beschäftigungspakt", so Personalvorstand Heinz Klinkhammer "eine differenzierte Bezahlung" vorgesehen. Dies sei eine Wohltat, weil sie nicht entlassen worden wären. Ihre Arbeit wird mit einem Nachlass von 40 Prozent auf den Markt gedrückt. Auch die Deutsche Bahn verwandelt einen Teil ihrer Beschäftigten in Leiharbeiter, auch hier, um "Kündigungen zu vermeiden".

Wegen dieses Effektes fällt es schwer, das Vorgehen zu kritisieren. Zumal die Gewerkschaften unlängst erst den Zeitarbeitsfirmen die Tariffähigkeit bescheinigt und ihnen damit den Weg aus der sozialen Diskriminierung genommen haben. Mit Inkrafttreten des geänderten Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes (AÜG) werden die Tarifverträge für die tarifgebundenen Mitgliedsunternehmen am 1. Januar 2004 verbindlich.

Aber die Branche der Zeitarbeitsfirmen ist überhaupt nicht glücklich, was da bei den Großunternehmen passiert. Sie waren angetreten, um Firmen flexibel und auf Zeit mit Know-how auszuhelfen. Jetzt schaffen sich die Unternehmen selbst Zweitbelegschaften. Doch weil viele Firmen ihre Zeitarbeitstöchter auch nutzen, um Berufsanfänger billig einzustellen, ist das Auffangen von Mitarbeitern, die man sonst entlassen müsste, oft nur ein argumentativer Trick, etwa bei der Bahn-Tochter DB Zeitarbeit.

Vielleicht ist der Umweg über die Heloten-Belegschaften ja wirklich der einzige Weg. Mitarbeiter der HVB Profil haben immerhin eine Chance, in die erste Belegschaft aufzusteigen. Dann sollten die Unternehmen allerdings offen zugeben, dass es anders nicht geht und eine Rechnung aufmachen, bei welchen Lohnkosten Firmen hierzulande noch profitabel wirtschaften können.

Nicht wenige mittelständische Firmen haben ihre Mitarbeiter entlassen, um sie als Ich-AGs wieder einzustellen. Diese haften selbst, können bei Misserfolg einen Privatkonkurs hinlegen, nach sieben Jahren sind sie schulden- und die Gläubiger anspruchsfrei. Auch die PSAs, die in diesem Jahr mit öffentlichem Geld 100.000 Arbeitslose mit Hilfe von Zeitarbeitsverträgen in Lohn und Brot führen sollten, betreiben Gehaltsdumping - unabhängig davon, dass sich bislang bloß 15.000 Arbeitslose selbst anbieten.

Das Ziel der Politiker ist es, mit diesen Potemkinschen Dörfern der Beschäftigung die Zahlen der Bundesanstalt für Arbeit zu schönen. Man wundert sich, dass das "Millionenwunder Billigjobs" nicht auch die Statistik entlastet. Wie sollte das auch geschehen? Mit einem Gehalt von knapp 400 Euro im Monat, das diese Jobs einbringen, bleibt man im Grunde arbeitslos. Die Billigjobs können nur ein Zusatz-Erwerb sein. "Underemployment" anstelle von "Unemployment" folgt dem amerikanischen Muster einer tiefen Spaltung der Gesellschaft.

Konkurrenz aus Tschechien

Man müsste neben die Zahl der Arbeitslosen die Zahl der Heloten, der nicht vollwertig Beschäftigten, stellen, um Ehrlichkeit in die Debatte zu bringen. Da man das nicht tut, muss man genauer hinschauen. München etwa hat derzeit 70.000 Arbeitslose. 13.000 kamen im Oktober dazu, fast ebenso viele meldeten sich ab. Mit 106.000 in den ersten neun Monaten "wurden aber noch nie so viele Menschen vermittelt wie jetzt, 20 Prozent mehr als im Vorjahr", sagt Arbeitsamtssprecher Ottmar Schader. Dieser "Umschlagsprozess" könnte bedeuten, dass die Arbeitnehmer der Landeshauptstadt sukzessive in schlechtere Verträge gedrückt werden.

Das Ende der Erosion ist nicht abzusehen. Wegen des Wettbewerbs wird hierzulande auf die Arbeitskosten in der tschechischen Republik verwiesen. Ist es das, was angestrebt wird? Und wäre dann der Boden erreicht? Wohl nicht. In Tschechien verweist man auf die Slowakei, dort auf Rumänien, dort auf Moldavien. Irgendwann mag man ja dort auf Martin May zurückgreifen wollen.

© SZ vom 22.11.2003 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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