Arbeitsmarkt China:Die erste Krise ihres Lebens

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Für junge Chinesen kannte die Karriere bislang nur eine einzige Richtung: steil bergauf. Nun erfahren sie, dass man einen Job auch verlieren kann.

H. Bork, Peking

Peking - Als Liu Bing morgens seinen Computer einschalten wollte, blieb der Bildschirm schwarz. Seine Kollegen, an den Schreibtischen rechts und links von ihm, entdeckten dasselbe Problem. Irgendjemand hatte die Stecker herausgezogen. Kurz darauf wurde die Abteilung ins Büro des Chefs gerufen und entlassen. "Das war ein Schock", sagt Liu.

Chinesische Wanderarbeiter: Sie sind die ersten, die von der Krise betroffen sind. (Foto: Foto: Reuters)

Es war sogar ein großer Schock. Bislang kannte der 26-jährige Liu für seine Karriere nur eine einzige Richtung: bergauf. Kurz nach dem Studienabschluss als Computeringenieur in Harbin hatte er in Peking einen guten Job gefunden. Und dann einen besseren. Und wieder einen besseren. Bis jetzt. In China ist in diesen Tagen ein Bruch zu beobachten, eine kleine Zeitenwende. Denn Liu Bing ist keine Ausnahme. Eine ganze Generation junger Chinesen macht gerade zum ersten Mal in ihrem Leben Bekanntschaft mit einer Wirtschaftskrise. Geboren nach 1980, als die Reform- und Öffnungspolitik Deng Xiaopings begann, kannten sie bislang nur den Boom. Drei Jahrzehnte lang ging es mit China immer nur bergauf, meist mit zweistelligen Wachstumsraten des Bruttoinlandsproduktes. Seit 2003 etwa lag das Wachstum jährlich bei über zehn Prozent. Junge Chinesen wie Liu Bing wuchsen in der Gewissheit auf, dass es ihnen jedes Jahr ein wenig besser gehen würde als im Jahr zuvor.

Ein Dutzend Mitbewerber wartet

Nun aber ist Liu wieder auf Jobsuche, und diesmal ist es hart. "Das ist eine völlig neue Erfahrung", sagt er. Die Firmen bieten nur noch 2000 Yuan (rund 235 Euro) Monatsgehalt an, nicht mehr die bis vor kurzem üblichen 4000 Yuan. "Keine Bezahlung von Überstunden, keine Sozialleistungen, kein Bonus am Jahresende", ratterte einer der Manager in dieser Woche seine Bedingungen herunter, als Liu beim Job-Interview vor seinem Schreibtisch saß. Vor dem Büro, auf dem Flur, wartete schon ein Dutzend Mitbewerber.

Auch in China macht sich die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise immer deutlicher bemerkbar. Hinzu kommen hausgemachte Probleme. Chinas Wirtschaftswachstum - das ein halbes Jahrzehnt lang zweistellig war - hat sich spürbar verlangsamt, neuen Angaben zufolge auf etwa neun Prozent, mit weiter fallender Tendenz. Woanders mag das wie ein schöner Traum klingen. Doch im Entwicklungsland China wird ein schnelles Wachstum gebraucht, um die Millionen von Menschen aufzufangen, die jährlich neu auf den Arbeitsmarkt drängen. Selbst bei einem Wachstum von neun, acht oder sieben Prozent könnten in dem riesigen Land bereits Unruhen ausbrechen, argumentieren manche Volkswirtschaftler.

Straßenschlacht mit dem Sicherheitspersonal

Schon mehren sich in China die Meldungen von gewaltsamen Ausschreitungen. Am Dienstag dieser Woche rebellierten rund 2000 gerade erst entlassene Arbeiter vor ihrer Fabrik im Ort Zhongtang, Provinz Guangdong, in der sie bis vor kurzem gearbeitet hatten. Sie verlangten Abfindungen, und als ihre Forderungen nicht erhört wurden, lieferten sie sich eine Straßenschlacht mit dem Sicherheitspersonal, warfen Fensterscheiben ein, zerstörten Büroräume und steckten eine Reihe von Polizeiautos in Brand. Sechs Menschen wurden verletzt, eine noch unbekannte Zahl von Arbeitern wurde festgenommen.

Dies ist nur das jüngste Beispiel in einer langen Reihe von Unruhen überall im Land. Die Anlässe sind jeweils verschieden, aber fast immer geht es in irgendeiner Form um Geld. Im Städtchen Longnan in der Provinz Gansu kam es kürzlich zu gewaltsamen Ausschreitungen, als das Stadtzentrum in der Folge des Erdbebens von Sichuan verlegt werden sollte - mit entsprechenden Auswirkungen auf die Immobilienpreise, berichtete die amtliche Nachrichtenagentur Xinhua. Anderswo, in der südchinesischen Boomstadt Zhenzhen, bewarf ein Mob von 400 Chinesen die Polizei mit Steinen, die an einer Straßensperre Strafen kassieren wollte. In Chongqing in Westchina streikten Anfang des Monats die Taxifahrer, um ihrer Wut über sinkende Einkommen Luft zu machen.

Auf der nächsten Seite: Wie die chinesische Führung auf die steigende soziale Unruhe im Land reagiert.

Steigende soziale Unruhe

Die Strukturreformen innerhalb Chinas und nun die Auswirkungen der Finanzkrise sind ein Hintergrund für diese immer zahlreicheren örtlichen Unruhen. Doch die Radikalität der Emotionen, die Heftigkeit der Auseinandersetzungen erklärt sich oft aus ähnlichen Lebenserfahrungen, wie sie auch für unter 30-jährige IT-Ingenieure in Peking typisch sind: Die Leute haben selbst nie wirklich schlechten Zeiten erlebt. "Ich glaube, wir haben noch nicht einmal begonnen, den wirklichen Einfluss der globalen Finanzkrise auf China zu erkennen. Ich wäre sehr überrascht, wenn die chinesische Regierung nicht sehr besorgt wäre über den steigenden Pegel an sozialer Unruhe im Land", sagt Joshua Rosenzweig von der Menschenrechtsorganisation Dui Hua in Hongkong.

Besorgt ist die chinesische Führung in der Tat. Das lässt sich indirekt an der Schnelligkeit ablesen, mit der sie auf die einsetzende Krise reagiert hat. "Ich gebe der chinesischen Regierung gute Noten für ihr Krisenmanagement. China war das erste Land, das seit Beginn der globalen Krise mit einem großen Konjunkturpaket von vier Billionen Yuan (rund 460 Milliarden Euro) reagiert hat, um den Verbrauch zu stimulieren", sagt der Ökonom Hu Angang von der angesehenen Qinghua-Universität. Sein Wort hat Gewicht, er hat schon oft bewiesen, dass er auch den Mut zur Kritik an der kommunistischen Führung besitzt. An diesem Mittwoch senkte Chinas Zentralbank zudem erneut den Leitzins, zum vierten Mal seit Mitte September.

Keine verlässlichen Arbeitslosenzahlen

Auch an den öffentlichen Äußerungen chinesischer Politiker ist erkennbar, dass sie die Krise erkannt haben. Die Lage auf dem Arbeitsmarkt sei "düster", warnte Arbeitsminister Yin Weimin vergangene Woche, und das Schlimmste komme möglicherweise erst noch. Verlässliche Arbeitslosenzahlen gibt es in China nicht, auch weil viele der Millionen von Wanderarbeitern nicht registriert sind, die nun als erste entlassen werden und oft einfach in ihre Heimatdörfer zurückkehren. Viele dieser Bauernsöhne und -töchter sind jung, auch für sie ist Arbeitslosigkeit etwas Neues.

Chinas 20- bis 30-Jährige, bislang eine der konsumfreudigsten Gruppen, entdecken nun das Sparen. Die von einem gewissen Guo Menhao im Internet propagierte "100-Yuan-Woche", also das Leben mit weniger als zehn Euro pro Woche, ist binnen kurzer Zeit zu einer Massenbewegung geworden. Andere junge Chinesen veröffentlichen im Internet ihre Lebenshaltungskosten, etwa die Ausgaben für eine Flasche Wasser am Kiosk, um dann von anderen Nutzern Tipps zum Sparen zu bekommen.

Begehrte Beamtenjobs

Auch für die sechs Millionen Studenten, die in diesem Jahr in China ihren Abschluss machen und auf den Arbeitsmarkt drängen, sieht es nicht gut aus. "Immer weniger Jobs stehen für diese Abgänger zur Verfügung", schreibt die Zeitung Südliches Wochenende. Auf den großen Jobmessen ist das Gedrängel noch stärker geworden. "Studenten und Büroangestellte sorgen sich nun um ihre Zukunft auf dem Arbeitsmarkt", bestätigt sogar die amtliche Nachrichtenagentur Xinhua. Als bei einer Firma in Shanghai kürzlich eine neue Rezeptionistin gesucht wurde, bewarben sich hunderte von Absolventen von Elite-Unis wie Fudan oder Jiatong.

Sogar Jobs als Beamte, noch vor kurzem bei den meisten Studenten eher verpönt, sind plötzlich wieder beliebt. Mehr als eine Million junger Chinesen haben sich in diesem Jahr um staatliche Stellen beworben, 200.000 mehr als im Jahr zuvor. "Noch vor einem Jahr", zitiert Xinhua eine junge Frau namens Yang Chanjuan, "hätte ich mir nicht vorstellen können, für die Regierung zu arbeiten." Jetzt denkt sie anders. "Das ist sicherer."

© SZ vom 4.12.2008/bön - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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