Arbeitsmarkt 60+:Alte in die Produktion!

Bald werden immer mehr Menschen über 60 an der Werkbank stehen: Damit das funktionieren kann, müssen sich Unternehmen auf das Älterwerden ihrer Belegschaft vorbereiten.

Hannah Beitzer

Über dem Fließbandarbeiter im BMW-Werk Dingolfing hängt ein Seil: die Reißleine. Wann immer der Arbeiter ein Problem hat, zieht er daran - und keine halbe Minute später steht ein Kollege vor ihm: "Was gibt's?" Viel Zeit zur Lösung von Problemen hat man hier nämlich nicht: Alle 94 Sekunden rollt in der Montagehalle ein neues Fahrgestell aufs Fließband. Egal ob die Schulter schmerzt oder etwas mit der Technik nicht stimmt. Für den Arbeiter hier ist das noch nicht so schlimm. Er ist keine 40 Jahre alt, seinen kräftigen Schultern sieht man an, dass er schwere Arbeit gewohnt ist. Er hat sogar noch Zeit, mit seinen Nachbarn am Fließband zu scherzen.

Fertigung BMW X3

Fließbandarbeitern leiden unter Schmerzen, wenn sie immer nur die gleichen Handgriffe ausführen. Besonders im Alter erschwert das den Arbeitsalltag.

(Foto: dpa)

Die Reißleine soll eigentlich vor allem anderen Arbeitern helfen. Solchen, die nicht mehr so gut können. Mitarbeitern über 60 zum Beispiel. Doch bisher sieht man gar keine alten Menschen durch die Hallen laufen. Nur etwa 40 Mitarbeiter in Dingolfing, das entspricht 0,2 Prozent, sind über 60. Doch bald könnte das anders sein: wenn aufgrund des demographischen Wandels alle Deutschen bis zum Alter von 67 Jahren arbeiten müssen. Auch dann noch, wenn die Muskelkraft nachlässt und die Reaktionsschnelligkeit.

Die Reißleine ist Teil des Projekts "Heute für morgen", mit dem sich BMW auf diese nahe Zukunft einstellen will. Ob es funktioniert, kann man noch nicht sagen. "Wir haben kaum Erfahrung mit Mitarbeitern über 60 Jahren", sagt Sina Hattesohl, die das Projekt "Heute für morgen" in der Personalabteilung koordiniert. Die meisten Mitarbeiter nähmen die Altersteilzeit in Anspruch.

Das ist nicht nur bei BMW so: "Wir haben erst kürzlich in einer Umfrage herausgefunden, dass nur knapp zwei Prozent aller Mitarbeiter in unserer Branche über 60 sind", sagt Michael Knuth, Sprecher der IG Metall Bayern. "Ob das nun Rente mit 65 oder Rente mit 67 heißt, ändert nichts daran, dass Leute über 60 kaum noch arbeiten." Das gilt nicht nur für die Industrie. Auch Hans Sterr von der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi Bayern sagt: "Leute, die bis zum gesetzlichen Rentenalter arbeiten, gibt es kaum." Zwar sind viele Berufe in der Dienstleistungsbranche nicht körperlich anstrengend - "aber die Leute sind irgendwann ausgelaugt", sagt Sterr.

Irgendwann sind die Leute ausgelaugt

Das liegt auch an der immer rasanteren Entwicklung in der Arbeitswelt: "Es gibt Personalverkürzungen, Einsparungen, Arbeitsverdichtung. Das alles belastet die Leute zusätzlich."

Zum Beispiel in der Pflege: Schon jetzt herrscht hier Fachkräftemangel, während die Menschen immer älter und die Altenheime zumeist voll belegt sind. Sollen also zukünftig 67-Jährige 87-Jährige im Bett wenden, waschen, ihnen auf die Beine helfen? Schwer vorstellbar, ist die Pflege doch genauso körperlich anstrengend wie die Fließbandarbeit. Stefan Endl ist Physiotherapeut im Pflegeheim St. Josef im niederbayerischen Hauzenberg. Er sagt: "Besonders der Rücken leidet, zum Beispiel wenn die Pfleger die Patienten vom Bett in den Rollstuhl heben."

In Hauzenberg versucht man schon seit einiger Zeit, die Mitarbeiter länger fit zu halten. Endl gibt in Haltungsschulungen Tipps, um den Rücken zu schonen. Viele Pfleger nehmen sich zum Beispiel nicht die Zeit, sich direkt vor den Patienten zu stellen, sondern bücken sich einfach schräg nach unten - schlecht für den Rücken. Endl zeigt ihnen Dehnungsübungen für die belasteten Muskeln. Dennoch: In Hauzenberg ist gerade mal eine Mitarbeiterin 60 Jahre alt, wie Heimleiter Franz Hackl erzählt. Pfleger über 60 gibt es laut Verdi in der gesamten Branche kaum. Die Anzahl der Burn-outs in der Pflege sei außerdem besonders hoch, heißt es bei den Krankenkassen.

"Man braucht einfach mehr Personal"

In Hauzenberg versucht man, den Stress durch eine neue Organisationsstruktur zu mildern. Statt vieler kleiner Pflegeeinheiten gibt es große Gruppen. "Normalerweise gibt es in einem durchschnittlichen Altenheim acht Einheiten auf 120 Bewohner. Bei uns sind es drei", sagt Hackl. Wenn ein Angestellter wegen Krankheit ausfällt, sind immer noch genügend andere in der Gruppe da.

Für Hans Sterr sind solche Bemühungen ehrenwert - aber sie haben Grenzen: "Für bessere Pflege und eine geringere Belastung der Mitarbeiter braucht man eben einfach mehr Personal", sagt er. Vor allem wenn die Angestellten älter sind.

Alle 94 Sekunden die gleiche Bewegung

Auch BMW versucht die Mitarbeiter durch eine veränderte Organisation zu entlasten, vor allem körperlich. Alle 94Sekunden schraubt der Fließbandarbeiter dort neue Teile in den Wagen. Alle 94 Sekunden wiederholt er also die gleichen Bewegungen. Er legt den Kabelbaum in den Motorraum und schraubt ihn fest. Dazu beugt er sich seitlich in den Wagen, immer wieder - nach einiger Zeit schmerzt der Rücken.

Deswegen rotieren die Arbeiter nun häufiger zwischen verschiedenen Arbeitsplätzen. So, dass jeweils eine andere Muskelpartie belastet wird. "Wie im Fitnessstudio", sagt Bereichsleiter Wolfgang Kulzer. Er hat die Arbeitsplätze gemeinsam mit einer Physiotherapeutin begutachtet. Sie hat die Mitarbeiter befragt, was ihnen weh tut, wenn sie nach Hause gehen. Heute hängen an jedem Arbeitsplatz Karten mit Dehnübungen.

Fit für die Zukunft

Im Sommer eröffnet das BMW-Werk eine Halle, in der die Fußböden weicher sind, rückenschonende Sitzmöglichkeiten den Arbeiter entlasten und Sprossenwände für Übungen direkt neben den Arbeitsplätzen stehen. So sollen Mitarbeiter sich gar nicht erst kaputtarbeiten, sondern fit bleiben für die Zukunft. Und länger arbeiten.

Außerdem versuchen die Unternehmen, ihre Mitarbeiter auch zu einer gesunden Lebensweise in der Freizeit anzuhalten. Im Altenheim Hauzenberg hängt ein Speiseplan. Die gesundheitsbewussten Mahlzeiten, zum Beispiel überbackenes Kabeljaufilet, sind mit einem Smiley versehen.

Schulungen zum Thema Ernährung

BMW organisiert Schulungen zum Thema Ernährung. "Natürlich kann man den Mitarbeitern nicht verbieten, dass sie daheim zwei Weißbier trinken und sich auf die Couch legen", sagt BMW-Mann Kulzer, "aber ich freu' mich schon, wenn einer sagt: Wir essen jetzt zweimal die Woche Salat."

Vom Monteur zum Pförtner

Dass Betriebe wie BMW oder das Pflegeheim St. Josef die körperliche Fitness ihrer Mitarbeiter in den Vordergrund stellen, finden die Gewerkschafter Knuth und Sterr gut. Aber: "Man kann durch solche Extraleistungen nicht ausgleichen, dass in vielen Berufen die Arbeitsbelastung zu hoch ist, um sie bis 67 auszuhalten", sagt Sterr. "Rückengymnastik ändert kaum etwas daran, dass Leute über 60 Jahren nicht mehr arbeiten wollen", bestätigt Knuth.

Für ihn hat das frühe Rentenalter vor allem einen Grund, der sich kaum beheben lässt: "Früher gab es viel mehr Schonarbeitsplätze." Da hat der Monteur irgendwann in die Pförtnerloge gewechselt, wo er seine letzten Jahre im Betrieb verbrachte. "Heute sind solche Jobs oft outgesourct", sagt Knuth, "der Pförtner kommt dann von einer Wachgesellschaft."

Im Betrieb weiß man oft nicht wohin mit den Alten. Denn eigentlich passen sie mit ihren nachlassenden Kräften, den längerwährenden Krankheiten und der geringeren Belastbarkeit nicht in eine Arbeitswelt, in der es immer schneller und effizienter zugeht. Da helfen auch keine Turnstangen an der Werkbank.

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