Arbeitsämter:Vermitteln oder vergraulen

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Um ihre Zahlen zu verschönern, scheuen die Agenturen keine Schikane - und treiben Arbeitslose systematisch aus der offiziellen Statistik.

Von Rolf Winkel

München Der Vermittler sitzt hinter einem grauen Schreibtisch. Auf der Tischplatte steht ein großer Monitor, daneben liegen viele Akten in rosafarbenen Deckeln. Weit über 700 Arbeitsuchende hat der Mann von der Arbeitsagentur in einer deutschen Großstadt zu betreuen. Wenn er über den Alltag in der Behörde spricht, klingt Verbitterung durch: "Wie soll man denn da nicht zynisch werden?", fragt er und weist auf eine Dienstanweisung hin. Sie trägt die Überschrift "Geschäftspolitik 2003, Ziel: Bestand Arbeitslose senken".

Um den "Bestand" an Arbeitslosen zu senken, gebe es zwei Wege, meint der Mann vom Amt: Arbeitslose zu vermitteln oder sie zu vergraulen. Das Papier beschäftige sich mit Letzterem. In der Dienstanweisung sind so genannte "Ergebnisziele" festgelegt. Diese sind für "Teams" definiert, zu denen jeweils vier bis fünf Vermittler gehören. Jedes Team soll danach pro Monat "60 Fälle 1. MV" und "7 Fälle 2. MV" produzieren. "MV" steht für "Meldeversäumnis". Das heißt: Arbeitslose, die auf eine Vorladung vom Amt nicht reagieren, werden mit einer "Säumnisstrafe" belegt: Leistungsbezieher erhalten dann eine Zeit lang kein Geld. Wer ein zweites Mal nicht zum Meldetermin kommt, fliegt auch aus der Arbeitslosenstatistik.

Anders erfasst

4,6 Millionen Menschen sind derzeit in Deutschland offiziell als arbeitslos registriert. Keiner liest diese Zahl gerne - und alle finden sie zu hoch: Der Aufschwung lässt auf sich warten. Doch selbst wenn die Konjunktur anspringt, wird es nach Auffassung von Experten kurzfristig keine wesentliche Besserung am Arbeitsmarkt geben.

Da soll wenigstens die Statistik besser aussehen. So werden seit Jahresbeginn die Arbeitslosen anders erfasst: Wer von der Arbeitsagentur "trainiert" wird - in neuen Fertigkeiten oder schlicht für die nächste Bewerbung - zählt jetzt offiziell nicht mehr als arbeitslos. Im Januar verschwanden so 81.100 Arbeitsuchende aus der Statistik. Schon lange zählen auch die von den Ämtern geförderten Teilnehmer an Weiterbildungskursen, Arbeitsbeschaffungs- und Strukturanpassungs-Maßnahmen nicht als erwerbslos. Würden sie mitgezählt, hätte es im letzten Monat noch 331.000 registrierte Arbeitslose mehr gegeben.

Keiner der Zahlentricks ist so raffiniert wie der mit dem "Meldeversäumnis". "Eigentlich sollten das nur Sanktionen im Einzelfall sein", sagt der Vermittler von der Arbeitsagentur, der nicht namentlich genannt werden möchte. "Jetzt müssen wir aber die Strafen planmäßig und massenhaft produzieren." Insgesamt soll nach der Dienstanweisung allein in seinem Amt jedes Team 1200 so genannte Säumnistage pro Monat erzielen. Entsprechend lang würden dann bei Leistungsbeziehern auch fällige Zahlungen von der Arbeitsagentur eingespart. "Taktung und Häufigkeit der Einladungsaktionen pro Tag/Woche sind so zu planen, dass o. a. Ergebnisziele erreicht werden", heißt es in dem amtlichen Papier. Und das bedeutet: "Wenn die Zahl der angestrebten Meldeversäumnisse nicht erreicht ist, müssen die Arbeitslosen eben nochmal eingeladen werden", sagt der Mann vom Amt.

In Massen vorgeladen

Der Phantasie der Vermittler sind offenbar keine Grenzen gesetzt. Je mehr Arbeitslose nicht kommen, desto besser stehen die Teams da - statistisch gesehen. "Die Vorladungstermine kann man auch auf den Nachmittag oder - zwischen Feiertag und Wochenende - auf Brückentage verlegen", weiß der Vermittler. "Da ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass Arbeitslose die Meldung versäumen."

Damit die Produktion von Meldeversäumnissen planmäßig vonstatten geht, können - so empfiehlt es die Leitung der örtlichen Arbeitsagentur - "möglichst große Gruppen mit bis zu 200 Personen" zusammengestellt werden. Für solche Massenvorladungen steht der Hörsaal des benachbarten Berufsinformationszentrums zur Verfügung. Diese Großgruppen-Veranstaltungen liefen unterschiedlich ab, erzählt der Vermittler. Zum Teil würde den Eingeladenen im Hörsaal noch etwas über ihre Rechte und Pflichten erzählt. "Zum Teil gehen die Leute aber auch auf der einen Seite in den Saal rein, auf der anderen Seite wieder raus" - dort ist die Anwesenheitskontrolle. Das nütze zwar keinem Arbeitslosen und sei wegen der vielen Einladungen auch ziemlich aufwändig. Aber so würden durch Säumniszeiten einige tausend Euro gespart und zugleich werde die Statistik verschönert. "Und darum geht es ja", sagt er.

Erfahrungsgemäß fallen durch solche Schikanen (Amtsjargon: "Konsequente Einforderung der Meldepflichten") vor allem diejenigen aus der Statistik, die ohnehin kaum (noch) etwas von der Arbeitsagentur erwarten können. Die Zahl der in Nürnberg registrierten "Nichtleistungsempfänger" hat sich so stark verringert. Bezogen früher rund 30 Prozent der registrierten Arbeitslosen keine Leistungen, sind es nun nur noch 18 Prozent.

Besondere Angebote

Doch es gibt auch eine große Gruppe von Arbeitslosengeld- und Arbeitslosenhilfe-Beziehern, die von den Arbeitsagenturen systematisch aus der Statistik und vom Arbeitsmarkt gedrängt werden: Die Älteren ab 58.

Menschen wie Karin L. aus dem niederrheinischen Städtchen Viersen. "Ich gehöre noch zu denen, die lange ganz auf das Konzept Familie gesetzt haben", sagt die 59-Jährige. "Meine zwei Mädchen und die Familie waren mir das Wichtigste." Erst als ihre Ehe zerbrach, kümmerte sie sich um eine Berufsausbildung. Mit 46 Jahren begann sie eine Lehre zur Groß- und Außenhandelskauffrau. Danach fand sie eine Stelle bei einem kleinen Importeur für Designerleuchten. "Aber als es in der Firma nicht mehr so richtig lief, musste ich als erste gehen", sagt sie. Seit 1997 ist sie nun ohne Job. Zunächst bezog sie Arbeitslosengeld, danach Arbeitslosenhilfe. Auch rund 100 Bewerbungen änderten nichts an ihrer Langzeitarbeitslosigkeit. Ihre bittere Erfahrung: "Die Jüngeren bekommen immer den Vorzug."

"Ein einziges Stellenangebot vom Arbeitsamt habe ich bekommen", stellt L. fest. Ansonsten hat die Kauffrau nicht viel vom Arbeitsamt gehört. Das änderte sich allerdings vor ihrem 58. Geburtstag: Die Behörde fragte zunächst ganz freundlich an, ob sie das ihr zustehende Geld künftig "unter den erleichterten Voraussetzungen des § 428 Sozialgesetzbuch III" beziehen möchte oder nicht. Im Begleitschreiben erfuhr Karin L. dann, dass dieser "erleichterte" Bezug ein besonderes Angebot für Arbeitslose ab 58 Jahren sei. Sie könne erklären, dass sie nicht mehr arbeiten wolle - und dennoch weiter Geld vom Amt erhalten. Wenn sie sich mit ihrer Unterschrift dazu entscheide, brauche sie für die Jobvermittlung nicht mehr zur Verfügung stehen und könne sogar bis zu vier Monate am Stück in Urlaub fahren. Im Gegenzug müsse sie sich allerdings verpflichten, Altersrente zu beantragen, sobald sie diese "abschlagsfrei" beanspruchen könne.

Über die Vorteile für die Arbeitsverwaltung informierte das Schreiben nicht: Mit einem Ja zu dieser Erklärung würde Karin L. offiziell nicht mehr als Arbeitslose zählen. Frau L. reagierte auf die amtliche Nachfrage erst einmal gar nicht. "Schließlich will ich ja arbeiten, warum soll ich das dann unterschreiben?" Doch inzwischen wird bei den Ämtern nachgehakt, damit möglichst viele Ältere den Vorruhestands-Paragrafen unterzeichnen.

In einem "Handlungsleitfaden" des Arbeitsamts in Solingen zur "Beratung von 58-Jährigen und Älteren über § 428 SGB III" vom 21. Mai 2003 gibt es sogar einen Stufenplan zum Umgang mit Unterschriftsverweigerern. Stufe 1: "Unterschreibt der Arbeitslose die Erklärung zu § 428 SGB III nicht, wird er darauf hingewiesen, dass er demnächst zu einer Gruppeninformationsveranstaltung eingeladen wird, an der er teilnehmen muss, weil sonst leistungsrechtliche Konsequenzen eintreten." Stufe 2: Auf der Gruppenveranstaltung "wird der Erklärungsvordruck zu § 428 erneut ausgehändigt. Teilnehmer, die immer noch nicht bereit sind, den Vordruck zu unterschreiben, werden unter Terminsetzung (10 Wochen) aufgefordert, die Erklärung unterschrieben zurückzugeben."

Unterschreib' und geh'

Nach einem ähnlichen Plan verfuhr auch das Arbeitsamt Viersen mit L. Als sie auf zwei Mahnschreiben, sie möge doch endlich die Vorruhestandserklärung unterschreiben, nicht reagierte, wurde sie zur Gruppeninformationsveranstaltung geladen. "25 Leute haben teilgenommen, der Raum war voll", erinnert sie sich an den Termin im letzten November. "Zwei junge Damen vom Arbeitsamt redeten nur über Erleichterungen und den längeren Urlaub, den wir nach der Unterschrift hätten. Wir hätten in unserem Alter sowieso keine Chance mehr auf einen Arbeitsplatz." Nach einer Viertelstunde bat man zur Unterschrift.

Karin L. unterschrieb nicht. Sie gehört inzwischen zu einer Minderheit unter den älteren Arbeitslosen. Im Juli 2003 hatten 74,4 Prozent aller Arbeitslosen ab 58 die Erklärung zu § 428 unterzeichnet. Zurzeit gibt es 392.000 ältere "nichtarbeitslose Leistungsempfänger", wie sie im Amtsdeutsch heißen. Und damit weitere 392 000 registrierte Arbeitslose weniger. 3,8 Millionen vormals Arbeitslose verschwanden vergangenes Jahr wegen Vorruhestand, Nichterneuerung ihrer Meldung, fehlender Mitwirkung oder Krankheit in dieser stillen Reserve der "sonstigen Nichterwerbstätigen".

Zum Vergleich: Wegen eines neuen Jobs meldeten sich 2003 nur 3,3 Millionen Menschen aus der registrierten Arbeitslosigkeit ab. L. will trotzdem standhaft bleiben: "Ich würde doch Stellenangebote annehmen, warum soll ich das Gegenteil unterschreiben?"

© SZ vom 21.2.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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