Arbeiten im Alter:Wenn die Rente nicht zum Leben reicht

Die Kinder brauchen finanzielle Unterstützung, der kranke Ehepartner muss gepflegt werden und die eigene Rente reicht gerade mal zum Überleben. Wie ist es, wenn man im Alter weiterarbeiten muss, weil sonst das Geld nicht reicht? Die Geschichte einer Wuppertaler Leierkastenfrau.

Charlotte Frank

Natürlich müssen Leierkastenspieler alt sein, sonst wären sie ja keine richtigen Leierkastenspieler, diese Logik hatte einem schon als Kind eingeleuchtet. Da war dieser Mann mit der Schiebermütze, der im Hamburger Hafen seine Seemannslieder orgelte und so uralt aussah, als wäre er nie jung gewesen. Oder die Dame in Montmartre, die ihre Chansons mit einer Stimme durch Paris schickte, wie sie so nur in 100 Jahren verwittern konnte. So einfach war das damals, und nie fragte man sich, warum die da eigentlich noch standen, in dem Alter, bei dem Wetter.

Arbeiten im Alter: Im Alter die Hände endlich in den Schoß zu legen - das geht für Rentner wie Ingrid Patzer nicht. Weil das Geld nicht reicht, ist die Leierkastenfrau auch auf das angewiesen, was man ihr in den Klingelbeutel wirft.

Im Alter die Hände endlich in den Schoß zu legen - das geht für Rentner wie Ingrid Patzer nicht. Weil das Geld nicht reicht, ist die Leierkastenfrau auch auf das angewiesen, was man ihr in den Klingelbeutel wirft.

Es ist ein verregneter Augusttag in Wuppertal, ein Sommer so grau wie die Stadt, aber Ingrid Patzer hat trotzdem an ihrem Stammplatz in der Fußgängerzone Stellung bezogen. "Komm, komm, komm mein Schatz, nimm an meiner Seite Platz", singt sie und schunkelt und kurbelt, so kennen sie die Leute hier seit Jahren. Keiner scheint sich zu wundern, dass die alte Dame nicht langsam aus dem Stadtbild verschwindet. Weil Frau Patzer Leierkasten spielt, muss sie alt sein, so gehört sich das eben.

Daran, dass auch der Umkehrschluss zutrifft, denken wohl die wenigsten: Weil Frau Patzer alt ist, muss sie Leierkasten spielen. Die paar Euro, die Passanten dafür in die kleine, hohle Porzellangans auf ihrer Drehorgel werfen, braucht sie zum Leben. Mit ihrer Rente allein würde es eng. "Ich bekomm' ungefähr einen Tausender", sagt Ingrid Patzer später, davon müsse sie Miete, Versicherungen, Essen und ihr altes Auto bezahlen. "Da ist am Monatsende Ebbe."

So wie der früheren Altenpflegerin Ingrid Patzer geht es immer mehr Rentnern in Deutschland: Sie sind gezwungen, aus Armut zu arbeiten. So jedenfalls interpretieren Gewerkschaften und Sozialverbände neue Zahlen des Bundesarbeitsministeriums, wonach im vergangenen Jahr 660 000 Rentner einer geringfügigen Beschäftigung nachgingen, fast 250 000 mehr als zehn Jahre zuvor. Ein Anstieg um 57 Prozent.

Für Ulrike Mascher, Präsidentin des Sozialverbands VdK, sind diese offiziell gemeldeten Mini-Jobber erst der Anfang. "Wer sich unter der Hand mit kleinen Putz- oder Gärtnerarbeiten etwas dazuverdienen muss, ist gar nicht erst erfasst", sagt sie. Für sie lassen die Zahlen keinen Zweifel zu: "Die Altersarmut ist auf dem Vormarsch."

Im Arbeitsministerium sieht man das entspannter: Parallel zur Zahl der arbeitenden Rentner sei die Zahl der Rentner insgesamt gewachsen. Man habe es also bloß mit einer statistischen Logik zu tun. Zudem seien die fleißigen Senioren oft gar nicht arm, sondern fühlten sich nur zu fit, um sich ganz aus dem Arbeitsleben zurückzuziehen. Um diese Aussage zu verstehen, um also die ganze Bandbreite der Gründe kennenzulernen, aus denen Rentner in Deutschland weiterarbeiten, lohnt es sich, nach dem Besuch bei Frau Patzer nach Hamburg zu reisen. Dort arbeitet der Apotheker Herbert Nolte, 69 Jahre alt.

Generation der Einzelkämpfer

Die Apotheke am Stadtrand hat erst vor zwei Jahren neu eröffnet, alles ist hell und jung und modern, insofern fällt Herbert Nolte mit seiner Halbglatze und den braunen Gesundheitslatschen auf. Im besten Sinne: Er nimmt sich Zeit. Das Gespräch mit seiner Kundin, einer betagten, krummen Dame, dreht sich um Bluthochdruck - Herr Nolte blickt, als wäre sie die Erste, die ihm an diesem Tag davon erzählt. Er geht auf ihre Geschichte ein, nickt, hört zu - und im richtigen Moment weg. "Ich bin zwar nicht so schnell am Computer", sagt er später im Büro, "dafür kann ich umso schneller die wichtigen und die unwichtigen Dinge filtern." Kein Wunder, schließlich hat er das vom Staatsexamen bis zu seinem 65. Lebensjahr täglich in Vollzeit gemacht.

Jung gebliebener Rentner mit Spaß-Lohntüte?

Und das reicht ihm nicht? Herr Nolte zögert. "Ich bin nicht der Typ, der morgens aufsteht, um mit dem Löffel in der Tasse zu rühren." So dächten viele seiner Freunde, sagt er, viele beneideten ihn deshalb um einen Job, in dem er vier halbe Tage die Woche weitermachen könne. Doch dann folgt ein Satz, der das schöne Bild vom jung gebliebenen Rentner mit der Spaß-Lohntüte trübt: "Wenn ich nicht arbeiten würde, wäre auch nicht genug Geld für den Bedarf da." Herr Nolte hat eine kranke Frau und zwei Kinder, beide studieren. Beide unterstützt er. "Dafür reicht die Rente nicht", sagt er.

Es reicht nicht: Auf diese Botschaft pochen die Sozialverbände - den ausschließlich aus Geselligkeit arbeitenden Rentner halten sie für die Ausnahme. Wenn überhaupt, treffe sie auf pensionierte Akademiker in körperlich wenig belastenden Berufen zu. Außer ihnen gebe es nur wenige Angestellte, etwa Sekretärinnen oder Sprechstundenhilfen, die in ihren alten Firmen weiter aushelfen könnten. "Wer Kellnerin war oder Maurer, muss meist auf unqualifizierte, neue Felder ausweichen", sagt VdK-Präsidentin Mascher. Auch, wer als Altenpflegerin gearbeitet hat.

Wenn Ingrid Patzer ihre Drehorgel durch die Straßen von Wuppertal schiebt, sieht das aus, als hätte das Gerät nicht mehr Gewicht als ein Teewagen. 25 Jahre lang hat sie Betten durch verschiedene Pflegeheime der Stadt geschoben, meistens im Nachtdienst. Das ist einer der Gründe für die Probleme, die sie heute hat: "Mit 60 durfte ich als Nachtschwester nicht weitermachen", sagt sie, die fehlenden fünf Jahre bis zum regulären Rentenalter spürt sie nun. "Sowieso hab ich ja lange nichts eingezahlt", sagt sie, mit 21 habe sie geheiratet, war Mutter und Hausfrau - bis sie sich mit 35 Jahren scheiden ließ.

Finanzielle Absicherung durch die Ehe? Fehlanzeige.

Es gibt Tausende Rentnerinnen, die solche Geschichten erzählen können, von unterbrochenen Erwerbsbiographien und vom gebrochenen Vertrauen darauf, dass die Ehe sie schon irgendwie absichern würde. So sind heute vor allem Frauen von Altersarmut betroffen: Im Jahr 2010 bezogen allein in Westdeutschland 5,3 Millionen Rentnerinnen - und 1,7 Millionen Rentner - weniger als 600 Euro im Monat. "Trotzdem nehmen viele keine Hilfe an", sagt Jens Dietrich von der Münchner Caritas, "das ist eine Generation, die sich lieber alleine durchschlägt." Notfalls mit einem Job.

Auch Ingrid Patzer musiziert nicht nur mit der Drehorgel in der Fußgängerzone. An ihrem Leierkasten hängen selbst gestrickte Söckchen, die sie an Passanten verkauft, daneben kindliche Flugzettel: Meine Lieder zum Schunkeln und Mitsingen bringen jede private Festlichkeit zum Höhepunkt." Etwa zwei Abende im Monat tritt Frau Patzer auf Goldenen Hochzeiten oder Schrebergartenjubiläen auf, daneben putzt sie bei einem 94-jährigen Ehepaar, einmal die Woche liest sie einer blinden Nachbarin vor. "Wenn es ganz eng wird, spare ich am Essen", sagt sie, was bei ihr aber nicht wie eine Klage klingt, schon alleine, weil sie sich beim Erzählen immer wieder unter herzlichem Lachen biegt. "Meine Mutter hat immer gesagt: ,Hilf dir selbst'", sagt Frau Patzer. Hauptsache, sie sei so lange wie möglich auf niemanden angewiesen, findet sie.

Dann hilft sie sich selbst, greift mit kräftigem Arm die Kurbel und spielt. Noch am Ende der Fußgängerzone ist ihr Lied zu hören, die Töne von "Ohne Krimi geht die Mimi nie ins Bett" hüpfen durch die Luft. Der Blick zurück bleibt am Straßenschild hängen: Alte Freiheit.

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