Arbeit und Leben:Das ganze Jahr herrscht Vorweihnachtsstress

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Utopie von mehr Zeit: Längst fühlen sich die Menschen nicht mehr nur in der Vorweihnachtszeit gestresst. (Foto: dpa)
  • Die Soziologin Jutta Allmendinger fordert eine Abkehr vom Vollzeit-Gebot.
  • Sie schlägt eine Normalarbeitszeit von 32 Stunden in der Woche vor.
  • Damit wären in bestimmten Lebensphasen längere Arbeitszeiten möglich, etwa direkt nach der Ausbildung oder dem Studium, oder wenn die Kinder aus dem Haus sind.
  • Wenn die Familie mehr Zeit erfordert, können Arbeitnehmer Teilzeit arbeiten oder für eine gewisse Zeit pausieren.

Gastbeitrag von Jutta Allmendinger

In der Adventszeit gab es in unserer Familie einen Spruch meiner Mutter, der sich uns eingeprägt hat: "Weihnachten merkt man daran, dass man keine Zeit hat, die Zeitung ordentlich zu lesen." Das war nicht nur so dahingesagt. In diesen Wochen schnitt sie viel mehr als sonst aus den Zeitungen heraus, um es später zu lesen. Uns allen war klar: Zeit ist wertvoll, und sie muss sich finden lassen, spätestens nach den hektischen Tagen der Einkäufe, Vorbereitungen und Feiern.

Was damals eine saisonale Ausnahme war, der ruhigere Phasen folgten, klingt heute wie Utopia. Auch in den übrigen elf Monaten fehlt die Zeit. Das gilt ganz besonders für Familien. Die Kinder haben vollgepackte Wochenprogramme mit musischer Bildung, Sport, Nachhilfe, Geburtstagsfeiern. Bringen und Abholen - meist kreuz und quer durch die Stadt - werden logistisch geplant. Dazwischen heißt es einkaufen, Mahlzeiten bereitstellen, zum Elternabend gehen, das Straßenfest vorbereiten, die eigenen Eltern im Blick behalten - und all das vor und nach dem Job oder sogar zwischen mehreren Jobs, wenn das Familieneinkommen aus schlecht bezahlter Erwerbsarbeit nicht ausreicht.

Die Zeitungen bleiben ungelesen, der Hektik folgen keine Momente der Muße mehr.

Sieht so das Leben aus, das wir uns für das 21. Jahrhundert vorgestellt haben? Der Plan war ja eigentlich ein anderer. Von Humanisierung der Arbeitswelt war die Rede, verbunden mit einer Reduktion der wöchentlichen Arbeitszeit. Der Wunsch von Frauen, selbst erwerbstätig zu sein, ihre gute Bildung zu nutzen und eigenes Geld zu verdienen, kam dem entgegen.

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Hier läge eigentlich eine Chance, denn die Erwerbsquote von Frauen hat inzwischen fast die von Männern erreicht. Für das "Später" gäbe es also Raum. Verantwortung könnte fairer geteilt werden zwischen Eltern, zwischen Partnern, innerhalb von Lebensgemeinschaften. Nur sind wir dabei, diese Chance zu verspielen. Denn schleichend hat sich das Modell einer Vollzeiterwerbstätigkeit aller als Norm etabliert. Angeblich seien nur so große Herausforderungen zu bewältigen: die sinkende Bevölkerungszahl, die Facharbeiterlücke, die finanzielle Ungleichheit zwischen Frauen und Männern, übrigens ein Resultat der ungleichen Verteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit.

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Das aber ist ein falscher Weg. Sinniger wäre es, die Erwerbsarbeit gleichmäßiger über den Lebensverlauf und zwischen den Geschlechtern aufzuteilen. Wir leben heute nicht nur länger, sondern auch länger in besserer Gesundheit. In 170 Jahren ist die Lebenserwartung jährlich um durchschnittlich drei Monate gestiegen. Doch nicht einmal jeder Zweite zwischen 60 und 64 Jahren ist erwerbstätig, und wer arbeitet, leistet wenige Stunden. Hieraus ergibt sich: Die durchschnittliche Arbeitszeit aller Menschen zwischen 60 und 64 Jahren beträgt in Deutschland nur knapp fünf Stunden pro Woche. Die Jüngeren sind im Schnitt wöchentlich 27 Stunden im Beruf.

Noch ist das Leben starr aufgeteilt in die Phasen Ausbildung, Arbeit und Ruhestand, doch das Modell stößt an seine Grenzen - ebenso wie die klassische Aufteilung von Erwerbsarbeit und Hausarbeit zwischen Männern und Frauen. Dabei könnte die Berufs- und Familienphase der 30- bis 45-Jährigen entzerrt werden. Man müsste nur die Erwerbsarbeit gleichmäßiger über das Leben verteilen. In der Familienphase wäre die Arbeitszeit geringer, später, wenn die Kinder selbständig sind, wäre sie höher.

Wenn wir dazu die Arbeitszeit von Frauen aufstocken und die der Männer entsprechend reduzieren, würde das Arbeitsvolumen insgesamt nicht sinken. Frauen und Männern bekämen lediglich eine andere Menge davon ab.

Mit einer Normalarbeitszeit von 32 Stunden in der Woche hätten beispielsweise alle, also nicht nur Mütter und Väter, die Möglichkeit, vier Tage in der Woche zu arbeiten. Diese neue Normalarbeitszeit verstehe ich über ein ganzes Arbeitsleben hinweg. Damit wären in bestimmten Lebensphasen längere Arbeitszeiten möglich, etwa direkt nach der Ausbildung oder dem Studium, oder wenn die Kinder aus dem Haus und die eigenen Eltern noch unabhängig sind. Wenn die Familie mehr Zeit erfordert oder man Zeit für sich braucht, werden längere Arbeitszeiten dann mit Abschnitten in kurzer Teilzeit oder mit Unterbrechungen verrechnet.

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Alle Befragungen zeigen: Frauen wollen ihre Arbeitszeit auf eine niedrige Vollzeit erhöhen. Männer wollen ihre Arbeitszeit reduzieren. Sie suchen zunehmend nach Jobs, die ihnen mehr eigene Zeit für die Familie und Freunde lassen als ihren Vätern. Noch schrecken sie davor zurück, ihre Vorstellungen auch umzusetzen. Denn wer im Beruf nicht dauerpräsent ist, gilt als wenig ambitioniert und damit ungeeignet für Chefposten. Wer wüsste das besser als die Frauen?

Wir alle würden von dieser neuen Normalarbeitszeit profitieren, aber auch die Wirtschaft insgesamt. Die Produktivität würde steigen, da die Unternehmen wesentlich stärker auf gut ausgebildete Frauen zurückgreifen könnten. Die Männer wären länger in Jobs zu halten, da sich die Belastungen durch den kontinuierlich hohen Arbeitsstress deutlich verringern ließen. Hierfür braucht es neue Arbeitsformen im Team und in gemeinsamer Führung, viel Kommunikation und Transparenz. Und es braucht eine Familienpolitik, die eindeutige Signale sendet und die Frauen und Männer in ihrem Streben nach einem partnerschaftlichen Lebensmodell unterstützt.

Halten wir den Trend "Vollzeit für alle" nicht auf, erleben wir die hektischen Vorweihnachtswochen über das gesamte Jahr. Will man aber eigene Plätzchen backen, Zeit mit der Familie verbringen, über die Weihnachtsmärkte schlendern, mal gucken und auch mal entspannt etwas füreinander besorgen, dann brauchen wir eine neue Arbeitszeitkultur. Auch um das "Später" für die Zeitungsschnipsel zu haben.

Jutta Allmendinger ist Präsidentin des Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB)

© SZ vom 20.12.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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