In der Adventszeit gab es in unserer Familie einen Spruch meiner Mutter, der sich uns eingeprägt hat: "Weihnachten merkt man daran, dass man keine Zeit hat, die Zeitung ordentlich zu lesen." Das war nicht nur so dahingesagt. In diesen Wochen schnitt sie viel mehr als sonst aus den Zeitungen heraus, um es später zu lesen. Uns allen war klar: Zeit ist wertvoll, und sie muss sich finden lassen, spätestens nach den hektischen Tagen der Einkäufe, Vorbereitungen und Feiern.
Was damals eine saisonale Ausnahme war, der ruhigere Phasen folgten, klingt heute wie Utopia. Auch in den übrigen elf Monaten fehlt die Zeit. Das gilt ganz besonders für Familien. Die Kinder haben vollgepackte Wochenprogramme mit musischer Bildung, Sport, Nachhilfe, Geburtstagsfeiern. Bringen und Abholen - meist kreuz und quer durch die Stadt - werden logistisch geplant. Dazwischen heißt es einkaufen, Mahlzeiten bereitstellen, zum Elternabend gehen, das Straßenfest vorbereiten, die eigenen Eltern im Blick behalten - und all das vor und nach dem Job oder sogar zwischen mehreren Jobs, wenn das Familieneinkommen aus schlecht bezahlter Erwerbsarbeit nicht ausreicht.
Die Zeitungen bleiben ungelesen, der Hektik folgen keine Momente der Muße mehr.
Sieht so das Leben aus, das wir uns für das 21. Jahrhundert vorgestellt haben? Der Plan war ja eigentlich ein anderer. Von Humanisierung der Arbeitswelt war die Rede, verbunden mit einer Reduktion der wöchentlichen Arbeitszeit. Der Wunsch von Frauen, selbst erwerbstätig zu sein, ihre gute Bildung zu nutzen und eigenes Geld zu verdienen, kam dem entgegen.
Verteilt man Arbeitszeit um, steigt die Produktivität, und der Stress sinkt
Hier läge eigentlich eine Chance, denn die Erwerbsquote von Frauen hat inzwischen fast die von Männern erreicht. Für das "Später" gäbe es also Raum. Verantwortung könnte fairer geteilt werden zwischen Eltern, zwischen Partnern, innerhalb von Lebensgemeinschaften. Nur sind wir dabei, diese Chance zu verspielen. Denn schleichend hat sich das Modell einer Vollzeiterwerbstätigkeit aller als Norm etabliert. Angeblich seien nur so große Herausforderungen zu bewältigen: die sinkende Bevölkerungszahl, die Facharbeiterlücke, die finanzielle Ungleichheit zwischen Frauen und Männern, übrigens ein Resultat der ungleichen Verteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit.
Das aber ist ein falscher Weg. Sinniger wäre es, die Erwerbsarbeit gleichmäßiger über den Lebensverlauf und zwischen den Geschlechtern aufzuteilen. Wir leben heute nicht nur länger, sondern auch länger in besserer Gesundheit. In 170 Jahren ist die Lebenserwartung jährlich um durchschnittlich drei Monate gestiegen. Doch nicht einmal jeder Zweite zwischen 60 und 64 Jahren ist erwerbstätig, und wer arbeitet, leistet wenige Stunden. Hieraus ergibt sich: Die durchschnittliche Arbeitszeit aller Menschen zwischen 60 und 64 Jahren beträgt in Deutschland nur knapp fünf Stunden pro Woche. Die Jüngeren sind im Schnitt wöchentlich 27 Stunden im Beruf.