Arbeit im Supermarkt:Die Storno-Queen

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Anna Sam hat ein Diplom in der Tasche, war lange auf erfolgloser Jobsuche und hielt sich als Kassiererin über Wasser. Jetzt hat sie einen Bestseller über diese Arbeit geschrieben.

C. Fromme

Ein paar Tage ist es her, da hat es sich wieder in ihren Traum geschlichen. Hat auf die Tiefschlafphase gewartet, um sich hinterlistig anzupirschen. Biep! Und wieder: Biep! Zwischen jedem Biep! ziehen im Traum an ihr vorbei: Toilettenpapier, Milchtüten, Bananen, Ziegenkäse, Eclairs. Anna Sam sagt, dass sie es damit vergleichsweise gut getroffen hat, Kolleginnen von ihr schlafwandelten mit den Händen, schöben Waren über die Bettdecke und riefen zuweilen laut in der Nacht: "Haben Sie eine Kundenkarte?"

Kassiererin im Supermarkt: "Haben Sie eine Kundenkarte?" (Foto: Foto: dpa)

Acht Jahre lang hat Anna Sam, 29, im französischen Rennes im Supermarkt an der Kasse gearbeitet, im vergangenen Januar hat sie ihren Polyesterkittel an den Nagel gehängt. Das alles wäre ja nun keine so spektakuläre Sache - hätte sie nicht aus ihrem Alltag am Warenband einige Dinge aufgeschrieben, die seit Wochen die Bestsellerlisten in Frankreich anführen. "Die Leiden einer jungen Kassiererin" hat sich dort mehr als 100.000 Mal verkauft, Übersetzungen erscheinen gerade in Deutschland, Italien, Brasilien, Israel und Taiwan. Es gibt Filmpläne, der Pariser Regisseur Jackie-George Canal will das Buch auf die Bühne bringen, und Anna Sam fragt belustigt: "Seit wann taugen eigentlich Kassiererinnen zu Stars?"

Lange Arbeitszeiten, niedrige Löhne, Überwachungen durch die Zentrale, mit denen Kassierer zu kämpfen haben - um all das geht es nicht. Das Bändchen wird nie die Magna Charta der Gewerkschaften werden, Sozialpolitiker werden Anna Sam nie als menschliches Antlitz einer Misere anführen. "Natürlich hätte ich über all das schreiben können", sagt Anna Sam und seufzt, "aber glauben Sie mir, es gibt viel Schlimmeres - die Kunden:"

Kassiererin mit Literaturdiplom

Kostprobe gefällig? Anna Sam sagt zu Monsieur A: "65,78 Euro bitte. Haben Sie eine Kundenkarte?" A. antwortet mit einer Gegenfrage: "Möchten Sie mit mir ins Bett gehen?" Ein anderer Fall: Die Kasse ist geschlossen, doch Monsieur B will sein Bier zahlen, und zwar sofort, er verspricht einen Euro extra. Anna Sam sagt: "Tut mir leid, diese Kasse ist bereits geschlossen." B. blafft sie sofort an: "Ach, komm schon. Ihr Kassiererinnen seid doch sowieso alle Schlampen! Ihr sagt immer ja, wenn ihr ein Trinkgeld bekommt! Jetzt nimm schon unsere Flasche, du Nutte!" Und das Highlight zum Schluss: Madame C. zeigt mit dem Finger auf Anna Sam und sagt zu ihrem Kind: "Wenn du in der Schule nicht fleißig lernst, dann wirst du einmal Kassiererin wie diese Frau da."

Und Anna Sam, die Kassiererin mit Literaturdiplom auf erfolgloser Jobsuche? Lächelt. Wie das vorgesehen ist für die "Servicemitarbeiterinnen Kasse". Manchmal, wenn es ganz schlimm wird, sagt sie: "Du Arsch." In Gedanken. Eigentlich hätte sie es auch laut sagen können, meint Anna Sam, die meisten hätten sie eh nur als Verlängerung der Technik gesehen. "Man wird nie als Person wahrgenommen, nur als Objekt." Das Ding an der Kasse. Biep!

Auf der nächsten Seite: Warum sich der Leser in mindestens einem der vielen Archetypen, die Anna Sam im Supermarkt ausgemacht hat, wiederfindet.

"Die Toiletten sind dort drüben"

Anna Sam: Manchmal, wenn es ganz schlimm wird, sagt sie: "Du Arsch." In Gedanken. (Foto: Foto: Marc Olivier)

Ja, das mag ja alles sein, werden spätestens jetzt die Ersten sagen. Aber hat mir nicht erst gestern eine Kassiererin im Supermarkt den Preis entgegengebellt und sich über den Fünfziger beschwert, mit dem ich den Joghurt zahlen wollte? "Jeder hat mal einen schlechten Tag", verteidigt Anna Sam ihre Zunft, "es ist eine Sache der Verhältnismäßigkeit." Kunden sähen maximal eine Kassiererin im Supermarkt pro Tag. Sie hätte hingegen täglich bis zu 300 Kunden bedient. Anna Sam liebt Statistiken, und so hat sie errechnet, dass sie 800 Kilo Waren pro Stunde anhebt, 20 Artikel pro Minute einscannt und 30 Mal pro Tag sagt: "Die Toiletten sind dort drüben." 15 Mal fragen Kunden, die die Kasse meinen, Anna Sam: "Sind Sie offen?" Und in zehn von 15 Fällen lacht sie und sagt: "Ich nicht, aber Sie vielleicht?"

Anna Sam betreibt eine sehr amüsante Kundenkunde im Zoo Supermarkt, "einen magenbitteren Sozialreport liest ja eh keiner", sagt sie. Sie setze darauf, dass Leute sich erst amüsieren und dann über sich nachdenken. Und so lacht man viel bei der Lektüre und am meisten über sich selbst. In mindestens einem der vielen Archetypen, die Anna Sam im Supermarkt ausgemacht hat, findet der Leser sich garantiert wieder. Vielleicht ist er einer von denen, die Einkaufen als strategische Kriegsführung begreifen und sich in Guerillamanier unter dem Gitter durchrollen, in der Sekunde, in der der Markt öffnet.

Wie im Theater

Oder er gehört zur Gruppe der Trickteiler, die an der 10-Teile-Kasse mit 40 Artikeln anrücken, und die in vier Packen aufteilen. Oder er versteht Supermärkte als Orte für sozialdarwinistische Übungen und stellt den leeren Wagen an die Kasse, um später alte Gebietsansprüche einzufordern. Vielleicht gehört er auch zur allergrößten Gruppe, an die Anna Sam eigentlich nur einen Wunsch hat: "Sagt doch wenigstens mal Hallo!"

Fast sei es wie im Theater. Als Kassiererin habe man den Logenplatz. Was wird gegeben? Drama? Tragödie? Komödie? "Etwas von allem", sagt Anna Sam. Damit ihr keine Szene entwischte, fing sie im April 2007 an, Zettel neben die Kasse zu legen, um am laufenden Band zu notieren. Ihre Chefs hätten das nie bemerkt. "Hauptsache, die Kasse stimmt." Im Internet schrieb sie auf caissierenofutur.over-blog.com unter dem Pseudonym Miss Pastouche ihre Kolumnen, und innerhalb kürzester Zeit wurde sie zum Star, ihr Blog hatte zuletzt 600.000 regelmäßige Leser.

Nette Mails von Kunden

Magazine bettelten die Unbekannte um Interviews an, und am Ende bekam die bekannteste Kassiererin Frankreichs in einer Talkshow ein Gesicht. Kurz drauf, im Januar 2008, kündigt sie in ihrem Supermarkt. "Das wär auf Dauer nicht gutgegangen", sagt sie. Ein halbes Jahr später erschien ihr Buch. Kolleginnen aus aller Welt schreiben Anna Sam, der Jeanne d'Arc der Kassiererinnen, von ihren abstrusesten Erlebnissen, ihre alten Chefs klopfen ihr auf die Schulter, wenn sie einmal die Woche in ihren alten Supermarkt kommt. Ja, auch nette Mails von Kunden gibt es, aber deutlich weniger.

Gerade schreibt Anna Sam am zweiten Buch. Auch darin geht es wieder um den Supermarkt, aber nicht um Kassen, mehr will sie noch nicht verraten. Zurück an die Kasse will sie nie mehr, sagt sie. In den nächsten Monaten wird sie ihr gleichwohl erhalten bleiben: In ihrer alten Supermarktkette schult sie nun Kassiererinnen - im Umgang mit schwierigen Kunden.

© SZ vom 28.1.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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