Anti-Stress-Verordnung:"Stress ist ein geniales System"

Andrea Nahles will sie, Angela Merkel hat ablehnend reagiert: Ist die "Anti-Stress-Verordnung" zielführend? Arbeitspsychologin Elisa Clauß erklärt, wann Stress positiv ist und wann gefährlich - und an welchen Stellen die Regelung schwächelt.

Von Dorothea Grass

Immer mehr Beschäftigte klagen über psychische Erkrankungen durch Stress bei der Arbeit, mittlerweile sind nach Angaben der IG Metall die körperlichen und seelischen Belastungen Grund Nummer eins für Frühberentungen in Deutschland. Die Gewerkschaften wollen deswegen eine so genannte "Anti-Stress-Verordnung" für Betriebe rechtlich bindend machen und haben dazu einen Entwurf vorgelegt. Nun debattieren Regierung, Gewerkschaften und Verbände über diese Regelung. 52 Prozent aller Deutschen befürworten sie, wie eine aktuelle Studie der DAK herausgefunden hat. Vier von zehn Deutschen lehnen eine rechtlich verbindliche Lösung gegen Arbeitsstress ab.

Doch welcher Stress ist es eigentlich, der uns krank macht? Und ist eine für alle Unternehmen gültige "Anti-Stress-Verordnung" ausreichend? Arbeitspsychologin Elisa Clauß vom der Berliner Humboldt-Universität arbeitet neben ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit als Beraterin und Trainerin für Stressmanagement und Erholung. Im Gespräch erklärt sie, warum sie die Frage mit einem "klaren Jein" beantwortet.

SZ.de: Gehört Stress bzw. ein gewisser Druck zur Arbeit dazu?

Elisa Clauß: Auf jeden Fall. Stress ist nicht per se schlecht. Es ist eine Reaktion auf einen Stressor, die sich als Anspannungszustand äußert. Stressoren können bestimmte Arbeitsanforderungen sein; schwierige Kunden zum Beispiel, eine Deadline oder besonders viele Aufgaben, die an einem Tag erledigt werden müssen. Die Anspannung, die durch den Stressor ausgelöst wird, mobilisiert unsere Ressourcen und Energien, körperliche wie psychische, sodass unsere Leistungsfähigkeit steigt. Es ist wie im Sport: Vor dem Wettkampf empfindet der Sportler Aufregung und Anspannung. Das ist ein geniales System. Es führt dazu, dass alle unsere Reserven freigelegt werden, um diesen Moment zu bewältigen. Danach sind erst mal Energiereserven verbraucht und wir müssen uns regenerieren.

Wann dreht sich dieses "geniale System" ins Negative?

Gefährlich wird es, wenn ich nicht die Gelegenheit bekomme, zu regenerieren. Damit ist kein mehrwöchiger Urlaub gemeint, sondern in erster Linie ein gutes Pausenmanagement oder auch eine sinnvolle Aufgabeneinteilung. Schon Aufgaben, die leichter von der Hand gehen, können regenerierend wirken.

Positiver Stress ist also das, was beflügelt. Negativer Stress entsteht dann, wenn es keine Erholungsphasen gibt?

Das subjektive Stresserleben ist sehr individuell und hängt von den jeweiligen Fähigkeiten und Widerstandskräften eines Menschen ab. Wie schnell jemand Energieverlust erleidet, bestimmen mehrere Faktoren. Es kommt nicht nur auf die körperliche Konstitution und Konzentrationsfähigkeit an, sondern auch auf die psychologischen Fähigkeiten des einzelnen. Zum Beispiel: Gelingt es ihm, Dinge auch einmal umbewerten zu können? Wie managt er seine Aufgaben, wie gut kann er priorisieren? Wie gut kennt der Mensch sich selbst, um zu wissen, wie er am besten regeneriert? Wichtig ist: Man muss den Punkt erkennen, an dem die Energiereserven angegriffen sind. Wenn man diesen Punkt überschreitet und sich keine Regeneration erlaubt, dann wird die permanente Stressreaktion negativ.

Wie äußert sich das?

Wir reden von unterschiedlichen Stressebenen, langfristigen und kurzfristigen. Auf der Tagesebene können Müdigkeit, Schwitzen, kurzzeitig erhöhter Blutdruck, negative Stimmungen oder auch Genervtsein Symptome sein. Das kann sich auf Wochen- und Monatsebenen ausdehnen. Auf Monatsebene kann es zu einem emotionalen Erschöpfungszustand kommen; zu Abgeschlagenheit, permanenter Müdigkeit, Antriebslosigkeit. Das ist dann, wenn der Mensch das Gefühl hat, seine Energiereserven nicht mehr auffüllen zu können. Langfristig führt das zu einer totalen Erschöpfung. Das Wort Burn-out ist ja in aller Munde. Neben Erschöpfung kann permanenter Stress auch zu chronischer Müdigkeit, Depressionen oder permanentem Bluthochdruck führen.

Die Anti-Stress-Verordnung, die gerade debattiert wird, soll genau das verhindern. Doch wie soll das gehen, wenn die Verordnung für alle im gleichen Maße gelten soll, die Stressanfälligkeit aber so individuell geprägt ist?

Genau das ist das Problem. Die Verordnung standardisiert. Sie gibt objektive Parameter vor und wenn die nicht eingehalten werden, wird automatisch davon ausgegangen, dass gesundheitschädlicher Stress entsteht. Natürlich arbeiten auch wir Arbeitspsychologen mit Standardisierungen. Aber in punkto Beurteilung kommt man nicht drum herum, sich Zeit für die einzelne Person zu nehmen. Es muss subjektive Maße geben. Die Frage ist: Ist die Person, um die es geht, unter den Umständen ihrer Arbeitsumgebung und mit den Anforderungen leistungsfähig - und lebensfähig? Ich rede bewusst von lebensfähig. Arbeit ist nun mal Teil unseres Lebens. Wir sollten sie wertschätzen.

"Personen und Umwelt suchen sich"

Die vorgeschlagene Anti-Stress-Verordnung will, dass die einzelnen Unternehmen für ihre Mitarbeiter so genannte Gefährdungsbeurteilungen anfertigen. Dabei werden folgende Faktoren genau geprüft: Arbeitsaufgabe, Arbeitsorganisation, soziale Beziehungen, Arbeitsplatz- und Arbeitsumgebungsbedingungen sowie Arbeitszeiteinteilung. All das soll der "Gesundheit und dem Wohlbefinden des Beschäftigten zuträglich" sein. Was halten Sie davon?

Für uns Psychologen ist das ein klassischer Fragebogen. Er entspricht einem diagnostischen Verfahren, das Arbeitsbelastung und -beanspruchung misst. Dieses Verfahren und auch die Themen Belastung beziehungsweise Beanspruchung sind sehr gut untersucht. Allerdings fehlt das Maß der persönlichen Ressourcen eines Menschen. Die Gefährdungsbeurteilung, wie sie die Anti-Stress-Verordnung vorsieht, berücksichtigt nicht, was der einzelne Beschäftigte an Energiereserven und Fähigkeiten mitbringt.

Was ist darunter zu verstehen?

Selbstwirksamkeit ist beispielsweise eine solche Reserve: Wenn ich überzeugt bin, etwas schaffen zu können, setzt das Energien frei. Auch Selbstkontrolle spielt hier rein. Wenn ich in ärgerlichen Situationen nicht die Beherrschung verliere, spart das Energie. Außerdem hilft eine optimistische und zielorientierte Grundhaltung bei der Bewältigung von Problemen im Job. Auch das Wissen darum, wie ich mich strukturiere, wie ich anstrengenden Situationen begegne und wie ich mich gut und wirksam erhole - auch schon in Pausen -, kann die Wirkung von Stressoren beeinflussen.

Der geplante Verordnungstext macht zum Teil ganz klare Vorgaben. Zum Beispiel verbietet er mehr als acht Stunden Arbeit pro Tag oder auch, dass während der Freizeit berufliche Anrufe erledigt oder Mails, die die Arbeit betreffen, bearbeitet werden. Aber es gibt auch Vorgaben, die auf den ersten Blick schlecht zu fassen sind. Zum Beispiel "ausreichend soziale Kontakte", "Betriebsklima" oder "Eindeutigkeit der Informationsdarstellung sowie Signalauffälligkeit bei Arbeitsmitteln". Wie sehen Sie das?

Wir als Arbeitspsychologen gehen davon aus, dass sich Person und Umwelt im Idealfall gegenseitig suchen. Wenn jemand bewusst einen Beruf mit wenig sozialen Kontakten wählt, wäre eine Verordnung wenig hilfreich, die eine bestimmte Kontaktzahl vorgibt. Allerdings können sich nicht alle ihren Job aussuchen. Daher ist es sinnvoll, sowohl objektive als auch subjektive Faktoren für Stress zu ermitteln. Objektive Faktoren könnten das Arbeitsumfeld und das Unternehmensklima sein. Hier wäre zum Beispiel eine klare Kommunikation hilfreich, dass Freizeit Erholung bedeutet und dass währenddessen keine Arbeitsdinge erledigt werden müssen. Es wäre auch hilfreich klarzustellen, dass Leistung nicht immer etwas mit Anwesenheitszeiten zu tun haben muss. Subjektive Maße für Stress finden sich dagegen nur in der Person selbst. Ein Verbot, im Feierabend Arbeitsmails zu lesen, heißt nicht zwangsläufig, dass jemand nicht mehr über die Arbeit grübelt. Nur die Person selbst kann einschätzen, wann sie sich wie gestresst fühlt. Zusammenfassend kann man sagen: Nur das Arbeitsumfeld zu beeinflussen, ist zu wenig. Um tatsächlich Stress zu reduzieren, sollten die Person und ihre Bedürfnisse in den Mittelpunkt gerückt werden.

Halten Sie die Verordnung für sinnvoll?

Ich gebe ein klares Jein. Es ist gut, dass jetzt endlich über das Thema geredet wird, das war längst überfällig. Ich finde es auch sinnvoll, die Arbeitsbedingungen in den Unternehmen zu durchleuchten. Aber ich finde die Regelung zu pauschal. Es wird noch zu viel an Rahmenbedingungen gebastelt und zu wenig auf den Menschen selbst eingegangen. Er muss auch selbst entscheiden dürfen, was für ihn gut ist.

Was wäre eine Alternative?

Prinzipiell bin ich einer Verordnung nicht abgeneigt. Anstatt aber noch mehr zu reglementieren, muss sie als Bedingung haben, Angebote zu machen. Mithilfe von Methoden, Wissen und Übungen könnten die Mitarbeiter lernen, wie sie selbst Stress-Prävention betreiben. Ziel sind mündige Beschäftigte, die für sich selbst sorgen können und dürfen. Und Unternehmen, die die entsprechenden Rahmenbedingungen dafür bieten.

Elisa Clauß beschäftigt sich aktuell in einem Projekt mit Personen, die beruflich ein hohes Maß an Selbstgestaltungsmöglichkeiten haben - und deshalb lernen müssen, wie sie am besten selbst für eine funktionierende Work-Life-Balance sorgen.

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