Analphabeten im Job:"Aus mir wird kein Dichter mehr"

Analphabeten

Mehr als sechs Millionen Erwachsene in Deutschland können nicht richtig lesen und schreiben.

(Foto: picture alliance/dpa)

Enrico arbeitet im Altenheim, Regina als Reinigungskraft, Oliver ist Hausmeister. Alle drei haben Probleme beim Lesen und Schreiben. Wie kommen sie zurecht?

Protokolle von Julian Erbersdobler

Enrico B., der Altenpflegehelfer

"Ich habe mir bei einem Unfall das Fersenbein zertrümmert. Wenn das nicht passiert wäre, hätte ich mich vielleicht immer noch nicht geoutet. Plötzlich war ich arbeitslos und musste Hartz IV beantragen. Weil ich die Anträge nicht ausfüllen konnte, habe ich einen Lese- und Rechtschreibkurs gemacht. Aus mir wird kein Dichter mehr, aber ich komme seitdem besser durchs Leben.

Heute arbeite ich in einem Altenheim. Da habe ich von Anfang an mit offenen Karten gespielt. Ich komme auch hier immer wieder an meine Grenzen, wenn ich etwas auf dem Computer schreiben muss oder Bewohnern aus der Zeitung vorlese. Wenn ich Namen schreiben muss, dann nehme ich die Türschilder zur Hilfe. Und zum Glück gibt es ja auch Rechtschreibprogramme. Manche Wörter, bei denen ich unsicher bin, schlage ich im Duden nach. Das dauert zwar lange, aber wenn ich sie gefunden habe, kann ich sie abschreiben. Ich bin einfach langsamer als andere. Wenn jemand einen Brief in zehn Minuten schreibt, brauche ich drei oder vier Stunden. Was mir wirklich schwerfällt, ist zwischen Hofmann oder Hoffmann zu unterscheiden. Das schreibe ich immer verkehrt. Aber das ist halt so.

Bis ich den Job im Altenheim gefunden habe, hat es ewig gedauert. Ich bin gelernter Holzfacharbeiter, habe den Beruf zu DDR-Zeiten gelernt. Schon in der Schule hatte ich eine Fünf in Deutsch. Überall, wo man viel lesen musste, war ich schlecht. Aber damals hat keiner erkannt, was das Problem ist. Natürlich habe ich gemerkt, dass andere Schüler besser lesen können. Meine Mutter und ich haben viel geübt, aber auch das hat nichts gebracht. Die anderen haben gesagt, dass ich faul bin. Das hat mich verletzt. Irgendwann hatte ich dann keinen Spaß mehr und habe es schleifen lassen."

Regina H., die Reinigungskraft

"Es kam schon vor, dass ich gleich wieder gehen musste, als ich von meinem Handicap erzählt habe. Da war das Vorstellungsgespräch vorbei, bevor es richtig angefangen hat. Das tut weh. Warum unterstützt man Menschen nicht, die ein Problem haben? Nach der Wende habe ich in einer Reinigungsfirma angefangen. Ich dachte mir: Da fällt es vielleicht nicht ganz so auf. Mein Chef wusste es von Anfang an. Wenn wir neue Putzmittel bekommen, gehe ich zu ihm und lasse mir erklären, was das genau ist. Da sind ja auch Chemikalien dabei, deswegen lasse ich mir das lieber noch mal in Ruhe erzählen, damit ich nichts Falsches mache.

Von den Kollegen wissen nur wenige von meinem Handicap. Man fragt sich immer: Was passiert, wenn das jemand weitererzählt? Wird hinter meinem Rücken über mich geredet? Machen sie sich lustig? Ich konnte nie jedem vertrauen. Und wenn man das Gespräch sucht, habe ich manchmal das Gefühl, dass ich gegen eine Wand rede. Manche wollen einen gar nicht verstehen. Da ist es einfacher zu sagen: Ich habe meine Brille vergessen, kannst du mir das vorlesen. Aber nach jeder dieser Lügen hätte ich mich am liebsten in ein Loch verkrochen. Das belastet."

Oliver G., der Hausmeister

"Ich bin Hausmeister in einem Mehrgenerationenhaus. Davor war ich Maler und Lackierer. Meine Mutter und meine Uroma konnten auch nicht richtig lesen und schreiben. Die haben mir das vererbt. Früher hatte ich immer Angst, dass ich auffliege. Es gab Situationen, da war es richtig knapp. Einmal sollte ich an einer Fassade einen Schriftzug hinschreiben. Ich habe mich geweigert, mein Chef war sauer. Der konnte ja nicht wissen, dass ich das nicht kann. Meine Ausreden waren immer dieselben. Kannst du das kurz übernehmen? Ich muss woanders hin. Das hat meistens funktioniert.

Mit meinem Handicap überhaupt einen Job zu finden, ist sehr schwer, gerade hier in Sachsen. Meine Bewerbungen hat damals meine Freundin geschrieben. Als ich noch Single war, bin ich einfach zu den Firmen gegangen und habe mich vorgestellt. Dann habe ich gesagt: Die Bewerbung kriegen Sie noch. Das war gelogen. Heute stehe ich dazu, dass ich Probleme habe. Ich sag es einfach. Entweder, die Menschen akzeptieren mich so wie ich bin, oder sie sollen es bleiben lassen.

Als ich noch auf Jobsuche war, haben meine beiden Töchter irgendwann gesagt: Papa, du musst jetzt endlich lesen und schreiben lernen. Ich habe dann einen Kurs gemacht. Aber auch heute lese ich noch sehr abgehackt. Ungefähr so wie ein Schüler in der ersten oder zweiten Klasse. Wenn ich in einer Fabrik arbeiten würde, wäre das wahrscheinlich schwierig. Bei meinem jetzigen Job als Hausmeister habe ich aber eigentlich keine Probleme. Hier habe ich mich auch geoutet. Das hat sehr viel Überwindung gekostet, war aber die richtige Entscheidung. Ich werde auf Augenhöhe behandelt."

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