Süddeutsche Zeitung

Amoklauf von Winnenden:"Der Amokläufer in uns"

Sie weinen, stehen unter Schock - und erzählen von den Demütigungen, die ihnen widerfahren: Lehrerin Annette Ohme-Reinicke berichtet, wie ihre Schüler, die in der Nähe von Winnenden leben, auf den Amoklauf reagieren.

Annette Ohme-Reinicke unterrichtet an einer Berufsschule in Fellbach. Der Ort liegt nur wenige Kilometer von Winnenden entfernt. Viele ihrer Schüler hatten Freunde an der Albertville-Realschule, dem Tatort des Amoklaufes. Auf sueddeutsche.de erzählt sie, wie die Jugendlichen auf die schreckliche Tat reagieren - und ob es möglich ist, nach dieser Tat zum Unterrichtsalltag zurückzukehren.

Manchmal urteilen Schüler sehr schnell. Dann fordern sie Vergeltung oder Rache. Seit fünf Jahren unterrichte ich in Stuttgart, seit drei Jahren Berufsschüler in Fellbach. Das liegt zwischen Stuttgart und Winnenden. Hier kommt es nicht selten vor, dass im Ethikunterricht jemand die Todesstrafe für Vergewaltiger oder die höchste Gefängnisstrafe für Diebe fordert. Aber jetzt, nach dem Amoklauf, stellt niemand die Frage nach einem Schuldigen, niemand fordert Genugtuung. Es soll heute auch nicht um Schuld und nicht um Entschuldigungen gehen, vielmehr um Ursachen und Gründe. Auch Schillers "Verbrecher aus verlorener Ehre" hat sein Original in Stuttgart.

Die Schülerin F. liest einen Zeitungsartikel vor. "Tim. K besuchte das Berufsschulzentrum II in Waiblingen", heißt es. "Da war ich auch", platzt F. heraus. "Wir wohnen drei Straßen entfernt von Tim K.", erzählt der Schüler G. "Der erschossene Autohändler aus Wendlingen war ein Bekannter meines Vaters", sagt R.

"Den ersten Amoklauf gab es 1992", sage ich. Eine sonst zurückhaltende Schülerin meldet sich. Sie spricht deutlich und bestimmt: "Nein, das war 1988 in England." Wir einigen uns darauf, dass 1992 der erste in Deutschland stattfand und mir wird klar: Diese Schüler sind mit dem Phänomen "Amoklauf" seltsam vertraut. Sie sind damit aufgewachsen. "Wir wurden mindestens schon drei Mal evakuiert, wegen eines möglichen Amoklaufs", meint S., "das kennt doch jeder."

Probleme der Mittelklassekinder

Er könne das alles nicht mehr hören, mault N., seit 16 Stunden redeten alle nur noch darüber. Er wisse überhaupt nicht, was er dazu sagen solle und deshalb wolle er nicht mehr darüber sprechen. Das seien doch sowieso nur Probleme von Mittelklassekindern und Kindern der Reichen. "In der Hauptschule passiert so etwas nicht. Da hauen sie sich aufs Maul und gut ist's." Das stimme so nicht, empört sich B. Sein Freund sei in der Hauptschule mit dem Messer bedroht und erstochen worden.

"Gewaltausbrüche von Schülern haben immer etwas mit einem stark angeschlagenen Selbstwertgefühl zu tun", lese ich aus einem Text des Bildungsforschers Klaus Hurrelmann vor. Dabei muss ich an den Schüler G. denken, der mir erzählte, dass er vier Jahre allein und ziemlich vereinsamt mit Computerspielen zubrachte, weil er von seinen Mitschülern gemobbt wurde und in dieser Zeit öfter an Selbstmord dachte.

Not der Abhängigkeit, Angst vor schlechten Noten

Der kleine, stille Fünftklässer einer teuren Privatschule fällt mir ein, der anfing zu weinen, als er seine Hausaufgaben vorlesen sollte. Als es mir gelungen war, ihn zum Sprechen zu bringen, schluchzte er: "Alles, was ich mache, ist schlecht." W. fällt mir ein, der sich in einer Privatschule eine ganze Schulstunde lang nicht setzen durfte, weil er fünf Minuten zu spät gekommen war. Die Mutter hatte wie üblich verschlafen.

Auch der wohlhabende Vater von H., einem schüchternen, introvertierten 15-Jährigen, kommt mir in den Kopf. In der Elternsprechstunde erklärte er mir, er wünsche, dass sein Sohn durch die Motorradprüfung fällt, damit H. endlich merke, wie schlecht er sei. Ich denke an die zaghaften Versuche der Schüler, falsche Lehrereinträge im Klassenbuch rückgängig zu machen. An die große Überwindung, die es sie kostet, einem Lehrer zu widersprechen, auch wenn sie im Recht sind, an die Not ihrer Abhängigkeit und der Angst vor schlechten Noten. Diese Kinder und Jugendlichen sind sozialisiert von einem Schulsystem, das auf Funktionieren ausgerichtet ist und permanent selektiert.

Auf der nächsten Seite: Wie die Schüler über Waffengesetze diskutieren - und davon berichten, wie sie sich gegenseitig fertigmachen.

Ein Ort des Scheiterns

Noch spricht keiner der Schüler von eigenen Erfahrungen der Demütigung, von Respektlosigkeiten der Lehrer. Davon erfährt man ohnehin meist beim S-Bahn-Fahren oder in der Raucherecke. Dort lassen sie einen hinter die Fassade blicken, diese Jugendlichen - manchmal, ein bisschen. Jetzt davon zu sprechen, hieße offenbar, in die Nähe von Tim K. gerückt zu werden. Deshalb geht es um Waffengesetze. "Kein Mensch braucht eine Waffe zu Hause", findet L.

In der nächsten Stunde lesen wir ein Interview mit Jens Hoffmann, Psychologe und Leiter des Darmstädter Instituts für Psychologie und Sicherheit. "Die Schule", so Hoffmann, "wird als Ort des Scheiterns und der Demütigung empfunden, selbst wenn das objektiv nicht stimmt. (...) Aber die Täter fühlen sich fast immer von aller Welt ungerecht behandelt, sie sind als Persönlichkeiten leicht kränkbar."

Mit dem Kopf in die Toilettenschüssel

S. ist jetzt nicht mehr zu stoppen: "Das stimmt doch gar nicht, was der da schreibt: 'fühlen sich ungerecht behandelt'. Das ist nicht nur eingebildet. Das ist doch ganz real. Als ich in der Hauptschule war, sagte mir mein Lehrer: 'Du bist doch viel zu blöd für die Realschule.' So etwas hat doch jeder hier erlebt."

A. berichtet halb belustigt, dass die neuen Schüler ihrer fünften Klasse mit dem Kopf in die Toilettenschüssel oder einen Eimer getaucht wurden. "Das musste halt jede aushalten in dem katholischen Mädchengymnasium", grinst sie. "Bei uns war auch so ein Typ", erzählt S. mit lauter fester Stimme, "der war irgendwie anders und immer allein. Der saß immer einsam auf einer Mauer in der Schule. Irgendwann fingen alle an, zum Spaß mit Bällen auf den zu werfen. Da saß dieser Typ ganz allein auf der Mauer und alle haben ihn beworfen und gelacht. Und die Lehrer haben dem nicht geholfen."

"Die Lehrer schauen weg"

"Jeder hat eben so einen kleinen Amokläufer in sich", meint J. "Ja, und das Ganze fängt schon viel früher an", so S. "Das fängt doch in der Schule an. Da kann man sich nicht wehren. Man wird verprügelt und die Lehrer schauen weg. Okay, wenn sich zwei Banden schlagen, dann gehen sie vielleicht dazwischen. Aber wenn ein Einzelner fertiggemacht wird, dann spielen sie immer alles runter." "Klar", bestätigt P., "und dann kommt man nach Hause und keiner ist da, weil die Eltern arbeiten gehen müssen."

"Jeder", so S. wieder, "ist doch heutzutage nur noch mit sich selbst beschäftigt und denkt 'Mein Leben ist scheiße'. Man merkt überhaupt nicht mehr, wie es den anderen geht, weil man sich dauernd was vormacht. Da sitzen lauter Einzelne und keiner weiß, wie es dem anderen wirklich geht."

Auf der nächsten Seite: Wie Eltern und Lehrer ihre Kränkungen an die Schüler weitergeben.

Boomende Privatschulen

Ich stelle mir S. als Redner einer großen Demonstration vor und wünsche, alle könnten ihn hören. Denn er spricht Erfahrungen mit Lehrern und Eltern aus, die ihre eigene Kränkungen an die Schüler und Kinder weitergeben. Auch Erfahrungen mit Lehrern, die unfähig sind, mit Kritik und Unbehagen der Schüler konstruktiv umzugehen. Er gibt die Erfahrungen vieler Schüler wieder, die sich als Mensch nicht wahrgenommen fühlen, weil ihre Probleme und Nöte im Zwang des Notendrucks und der viel zu großen Klassen untergehen. Gerade die überfüllten Klassen machen es kaum möglich, jeden Schüler als Person wahrzunehmen und individuell zu begleiten. Ein Reflex darauf sind die boomenden Privatschulen. Denn dort kann man sich ein wenig Respekt und kleinere Klassen erkaufen. Die Probleme löst das nicht.

Am nächsten Tag, Tag zwei nach dem Amoklauf, will ich einen Zeitungskommentar besprechen. Die Schüler bringen mich davon ab, denn M. fängt immer wieder an zu weinen. M. kann noch gar nicht sprechen und möchte wenigstens in der Schule abgelenkt werden. Ihre Freundin ist vorgestern in der Schule erschossen worden.

Leistungs- und Selektionsdruck

Seit zwei Tagen gibt es hier nur noch ein Thema: Den Amoklauf, zehn Kilometer entfernt. Das wird sich in ein paar Tagen geändert haben. Dann geht es auch im Unterricht wieder um Demokratie und Mitbestimmung, Textinterpretation und rhetorische Mittel. Was aber bleiben wird, ist die Erfahrung, urplötzlich zum Todesopfer der eigenen Generation werden zu können. Und, so die Schülerin N.: "So etwas greift einen selbst an. Das nimmt einem die Sicherheit. Ich habe vor vier Jahren hundert Meter von der Schule in Winnenden entfernt gewohnt. Man hat keine Sicherheit mehr."

Im Amoklauf von Winnenden zeigt sich das Extrem einer Gesellschaft, die geprägt ist von zunehmendem Leistungs- und Selektionsdruck, wachsender Furcht vor Arbeitslosigkeit und Vereinsamung. Dieser Zustand könnte umschlagen in eine Angst der Individuen voreinander und dazu führen, dass Jugendliche als tickende Zeitbomben wahrgenommen werden, derer man sich nur durch ausgefeilte polizeiliche Sicherheitsprogramme oder präventive Identifizierungskonzepte schützen kann.

Wir müssen genau zuhören - besonders dann, wenn Jugendliche sich über die von ihnen erfahrene Wirklichkeit äußern.

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