Alltag der Ärzte:Psychische Extremsituation - jeden Tag

Manche Ärzte müssen an einem Vormittag mehr Hiobsbotschaften überbringen als die meisten Menschen in ihrem ganzen Leben. Situationen, auf die sie kaum vorbereitet werden.

Von David Böcking

Wie es der Mann über seine Zeitung hinweg sagt, da klingt es fast gelassen: "Vielleicht sterbe ich ja schon Montag oder Dienstag." Im Hinausgehen antwortet Peter Raasch: "Nein, nicht so bald. Und sterben müssen wir alle." Dann schließt der junge Assistenzarzt die Zimmertür - und ärgert sich.

Er hat dem 68-Jährigen gerade eher beiläufig erzählt, dass der Krebs in seiner Lunge sich bis in den Kopf ausgebreitet hat. Weil er dachte, das hätten die Kollegen schon erwähnt. Hatten sie aber nicht, und für einen Moment hat der Mann gestockt, hat gefragt, ob das wirklich passiert sei, wollte wissen, wo genau die Metastasen sitzen. Jetzt muss Raasch hoffen, dass er damit klar kommt.

Peter Raasch hat an einem Vormittag mehr Hiobsbotschaften zu überbringen als die meisten Menschen in ihrem ganzen Leben. Er arbeitet in der onkologischen Abteilung einer Lungenklinik in Gauting bei München. Die Patienten in den 35 Betten haben Krebs und eine durchschnittliche Lebenserwartung von 200 Tagen, täglich gibt es hier psychische Extremsituationen.

Situationen, auf die Ärzte in Deutschland bislang kaum vorbereitet wurden. Als Raasch vor zwei Jahren nach Gauting kam, hat ihn ein älterer Kollege einige Male auf Visite mitgenommen, ein paar Tipps gegeben, das war es. "Auf einmal war ich allein."

Psychische Extremsituation - jeden Tag

Wenn die sechs Medizinstudenten im Büro des Münchener Psychiaters Eckhard Frick in ein paar Jahren mit der Arbeit beginnen, sollen sie sich weniger allein gelassen fühlen. Sie studieren nach der neuen Approbationsordnung für Ärzte, die seit eineinhalb Jahren mehr Praxisnähe im Studium vorschreibt.

Zu den Vorgaben gehört, dass Studenten neben Körperfunktionen auch die "geistig-seelischen Eigenschaften" der Patienten kennen lernen. Die Verbindung zwischen Körper und Seele, die Psychosomatik, wird an der Münchener Ludwig-Maximilians-Universität nun von Spezialisten wie Frick in studienbegleitenden Kursen vermittelt.

Vor einigen Wochen hat Frick die Studenten in eine Klinik geschickt, alleine haben sie dort mit einem Patienten gesprochen. Haben nicht nur nach Krankheiten gefragt, sondern auch nach Familie, persönlicher Situation, möglichen Ängsten. Und jetzt will Frick wissen, wie es war.

"Superunangenehm," fand es Julia Roider, die als erste ihren Fall vorstellt. Ihr Patient, ein 56 Jahre alter Elektriker, wollte nicht über seinen Diabetes oder gar die damit verbundenen Sorgen sprechen. Obwohl die 22-Jährige lange überlegt hatte, wie sie den Mann am besten anspricht. "Vielleicht war es ihm peinlich, ausgerechnet mit einer jungen Frau über seine Probleme zu reden," vermutet eine Kommilitonin. "Gut möglich," meint Frick.

Viele Menschen suchten im Arzt eine Identifikationsfigur, eine Autorität. "Was früher die Beichtväter waren, sind heute die Ärzte."

Bei Peter Raaschs Morgenvisite zeigt sich, was Frick meint. Trotz seiner 29 Jahre und der Turnschuhe unterm weißen Kittel strahlt der junge Arzt schon eine Sicherheit aus, an der sich viele Patienten festhalten. Aber auch damit stößt Raasch an Grenzen. Etwa bei dem Mann, dem er ausgerechnet am dessen 60. Geburtstag sagen muss, dass sein Tumor trotz Chemotherapie weiter wächst. "Diese Krankheit stellt die Medizin immer noch vor große Probleme", beginnt Raasch die Heilungschancen zu erklären. Doch der Patient fragt nur nach einem neuen Medikament, dann weicht er auf seine Blutzuckerwerte aus.

"Die Wahrheit wie einen Stein am Weg des Patienten platzieren, aber ihn nicht in den Weg legen," empfiehlt Eckard Frick den Studenten für solche Situationen. Sie sollen zu ihren Patienten ehrlich sein, ihnen aber mit ihren Prognosen nicht die Hoffnung nehmen.

Eine schwierige Aufgabe, doch kein unlösbares Dilemma: Der Onkologe und Psychotherapeut Herbert Kappauf schreibt, Ärzte reduzierten Hoffnung oft auf Heilung und neigten deshalb dazu, bei schlechten Aussichten zu schweigen. Doch auch unheilbar Kranken könne es Mut machen, wenn der Arzt ihnen einfach seine Unterstützung zusichert oder die nächsten Behandlungsschritte erklärt.

Was aber macht ein Arzt wie Peter Raasch mit all den schlechten Nachrichten, mit Tagen, an denen ihn schon bei Dienstantritt mehrere Sterbescheine begrüßen? Manchmal flucht er noch, wenn er auf einem Röntgenbild wieder einen Tumor entdeckt hat. Ansonsten hat er sich notgedrungen an das Leid gewöhnt und ist, wie er sagt, "ganz schön abgestumpft." Freunde will Raasch mit dem Klinikalltag nicht behelligen, nur mit einem ehemaligen Studienkollegen bespricht er ab und zu seine Erlebnisse.

Als im Psychosomatik-Seminar die Frage aufkommt, wie Ärzte mit den Belastungen ihres Berufs umgehen können, herrscht Ratlosigkeit. "Wir sollten auch die Möglichkeit haben, uns irgendwohin zu wenden", meint der 22-jährige Frank Herzog, aber wo eine solche Anlaufstelle sein könnte, weiß niemand. Oft können sich Ärzte kaum vorstellen, selbst hilfsbedürftig zu sein, entsprechend unbekannt sind bestehende Angebote. Eines davon sind so genannte Balintgruppen, in denen Ärzte mit einem Psychotherapeuten ihren Alltag diskutieren. Die Studenten wirken interessiert, als Eckhard Frick von den Gruppen erzählt, ältere Ärzte aber reagieren oft ablehnend, wenn es um eigene Gefühle geht. Auch von den psychosomatischen Kursen seien keineswegs alle Kollegen begeistert, sagt Frick.

Nicht nur um Akzeptanz müssen die Reformer kämpfen, vielen medizinischen Fakultäten fehlen Geld und Personal für die neuen Lehrmethoden . "Auch in München sind die Studenten wegen überlaufener Kurse unzufrieden", berichtet Orsolya Genzel-Boroviczeny, die dort die studienbegleitenden Seminare aufgebaut hat.

Dass Mediziner trotzdem bald besser für die psychischen Herausforderungen ihres Berufs gewappnet sind, hofft die Gynäkologin auch aus persönlichen Gründen: Allein in ihrem Umfeld haben sich schon vier Ärzte das Leben genommen.

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