Süddeutsche Zeitung

Agilität im Job:A wie Ausbeutung

Wenn Unternehmen die Arbeit digital umkrempeln, kann das für die Mitarbeiter nicht unbedingt etwas Gutes bedeuten.

Von Alexander Hagelüken

Der Mann dachte, die Berufswelt sei sein Freund. Als Software-Entwickler ist er hoch qualifiziert; solche wie ihn begehrt die deutsche Wirtschaft im Jahr 2018. Doch seit seine Firma die Organisation umgekrempelt hat, kommt er sich nicht mehr begehrt vor. Eher "wie ein einfacher Arbeiter am Fließband".

Agilität - Für viele Unternehmen ist es das neue Zauberwort. Doch Agilität kann den Arbeitsdruck erhöhen - und Jobs kosten.

Glaubt man einem Münchner Forscherteam, findet in der Berufswelt gerade ein historischer Umbruch statt. Vergleichbar nur mit der industriellen Revolution zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Seit damals formen Industriemaschinen die Berufswelt. Jetzt formt eine andere Kraft, sagt Thomas Lühr vom Institut für Sozialforschung (ISF): die digitale Cloud, ein gigantischer Informationsraum, der Firmen, Beschäftigte und Kunden neu verbindet.

Unternehmen wie Airbnb und Uber wollen nur noch Plattformen sein, die (möglichst sozialversicherungs-)freie Mitarbeiter mit Klienten zusammenbringen. Andere Firmen wollen den Kunden durch die digitale Wolke anbinden, häufiger Innovationen ausliefern - und ganz neu gestalten, wie ihre Beschäftigten tätig sind. Dabei ähneln sich die Ziele: Weg von Abteilungen, die als Silos alleine vor sich hinwerkeln. Hin zu mehr Kooperation, zu Teams und flachen Hierarchien. Um erfinderischer, flexibler und näher am Kunden zu sein.

Als Leitbild setzt sich die "Agilität" durch, die Initiative, Antizipieren und Flexibilität ausdrücken soll. Auf deutsche Arbeitnehmer wirkt sich der Trend stark aus. Für das ISF bilden sich zwei Welten heraus: Im Idealfall profitieren die Mitarbeiter vom Umbruch, weil Hierarchien aufbrechen und sie Arbeit wie Tempo freier bestimmen können. Im anderen Fall läuft es wie bei dem Softwareentwickler, der seinen Frust den Forschern anvertraute.

"Weil die Märkte schneller werden und Start-ups links überholen, nehmen viele Firmen das Schlagwort agil in den Mund", beobachtet der Coach und Hochschullehrer Axel Koch. "Dabei werden die Mitarbeiter oft überfordert, weil es in der Firma eh schon viele Veränderungen gibt." Change-Prozesse heißen die im Personalersprech. Den Titel seines neuen Buchs hat Koch von einem Arbeitnehmer, der drastisch befand: "Change mich doch am Arsch."

Was sollen die Firmen verbessern? Der Coach rät zu prüfen, welche Veränderungen nötig sind, und dafür Aufwand und Zeit einzukalkulieren, statt einen Change-Prozess auf den anderen zu häufen. Wie schwer sich Verhaltensweisen ändern, wisse jeder von seinen Neujahrsvorsätzen.

Fast überall, wo Firmen agile Methoden einführen, wird bald intensiv über die Belastung diskutiert, stellen die ISF-Forscher fest. Beschäftigte klagen über Dauerstress. Sie erleben die Nachteile der neuen und der alten Berufswelt vereint: Ihre Leistung wird vermessen, ihre Arbeit getaktet, die Anforderungen werden erhöht, sie sollen ständig Innovationen liefern - aber sie dürfen so wenig entscheiden wie zuvor. Da fühlt sich der Softwareentwickler ausgeliefert wie ein Arbeiter dem Fließband. Sei agil? Diese Parole findet er zynisch. Zumal er erlebt, dass die neuen Methoden auch Stellen einsparen sollen.

Andreas Boes und seine ISF-Kollegen setzen dem ein anderes Modell entgegen: Teams, die wirklich bestimmen - auch darüber, wie sie arbeiten. Die gemeinsam lernen. Die auf die Sicherheit ihrer Jobs vertrauen können. Und deren wachsende Produktivität auch für ein gesundes Arbeitstempo genutzt wird. Mitarbeiter erhalten Kraft und Macht, weshalb das Modell Empowerment heißt, vom englischen power. "Das Modell markiert einen Gegenentwurf zum Bedrohungsszenario der Digitalisierung, die mehr Belastung bringt, Mitarbeiter überwacht und Arbeitsplätze vernichtet", sagt Thomas Lühr.

Vertrauen entgegenbringen, Verantwortung abgeben

Allerdings fanden die Forscher dieses Modell meist nur bei Start-ups, in manchen Entwicklerteams - oder als einsames Leuchtturmprojekt, während ringsum anders gearbeitet wird. Gerade die Verwaltung, aber auch Ingenieure oder Programmierer landeten dagegen oft an digitalen Fließbändern. Gern versehen mit dem Slogan: Wir sind jetzt alle agil. Solche Firmen werden dafür die Quittung erhalten, glauben die Forscher: Denn produktiver würden die Mitarbeiter so nicht.

Doch Agilität light ist für die Unternehmen zumindest kurzfristig die billigere Lösung. Verlangen, ohne zu geben, bedeutet weniger Aufwand. Wer es dagegen ernst meint mit einer freieren und dadurch produktiveren Organisation, muss beispielsweise die Führung verändern. Statt von oben zu befehlen, sollen Fragen ausgehandelt werden. Indem etwa manche Mitarbeiter die Kundenperspektive einnehmen, andere die Qualität des Produktes im Auge behalten und wieder andere die Belastung des Teams. Der Softwarekonzern SAP, der wie Lufthansa oder die Deutsche Bahn die Agilität voranzutreiben sucht, nimmt sich einiges vor, so Personalmanager Wolfgang Fassnacht: Die Manager müssten Mitarbeitern "Vertrauen entgegenbringen, Verantwortung an sie abgeben und sie selbst ihren Weg finden lassen". So weit, bilanzieren die Forscher, sind die meisten Firmen noch nicht.

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SZ vom 14.04.2018/mkoh
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