Arbeitswelt:Gelähmt vor lauter Beweglichkeit

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Agilität ist das neue Trendwort der Arbeitswelt. Aber was heißt es eigentlich?

(Foto: DigitalVision/Getty Images)

Viele Firmen setzen auf agiles Arbeiten - auf Mitarbeiter, die flexibel über Abteilungen hinweg kooperieren. Doch das Bunte-Zettel-Management kommt nicht überall gut an.

Von Ronja Tillmann

Die Stimmung könnte wirklich besser sein bei der deutschen ING. So wie noch 2016 zum Beispiel. Damals waren 82 Prozent der Mitarbeiter der Direktbank zufrieden mit ihrem Arbeitsplatz. 2018 dagegen brach der Wert regelrecht ein, auf 57 Prozent. Das hat die Mitarbeiterbefragung im vergangenen Oktober ergeben. Warum die Stimmung mies ist, sagen Mitarbeiter in Onlineforen, im Schutz der Anonymität: "Agil um jeden Preis in Rekordzeit kann nicht unbedingt funktionieren." Oder: "Aktuell nicht empfehlenswert. Gute Strukturen wurden kaputt gemacht." Im Geschäftsbericht der niederländischen Konzernmutter wird die missliche Lage bei der Tochter durch die "laufenden Transformationsprozesse" erklärt.

Hinter den Beschwerden steht eine tief greifende Veränderung des gesamten Büroalltags, an der ING in Deutschland seit zwei Jahren arbeitet: das agile Arbeiten. Hinter dem Schlagwort steckt der Ansatz, dass Mitarbeiter selbständiger, kundenorientierter und über Abteilungsgrenzen hinweg zusammenarbeiten sollen. In der Regel gehören zur neuen Organisationsstruktur auch neue Methoden: beispielsweise "Scrum", "Design Thinking" oder "Kanban". Anfänglich vor allem in Start-ups und IT-Unternehmen genutzt, wollen inzwischen immer mehr Unternehmen mit diesen Methoden arbeiten. Seit einigen Jahren stürmen daher Berater die Großraumbüros geradezu und bringen haufenweise bunte Klebezettel mit.

ABC der Agilität

Wer wirklich "ädschjiel" werden will, muss auch die neuen Begrifflichkeiten beherrschen. Agile Coach: Ähnlich einem klassischen Unternehmensberater, der jedoch statt direkt die Lösung für eine Aufgabe oder ein Problem anzubieten, den Mitarbeitern zeigt, wie sie selbst Lösungen entwickeln. Er trainiert die Mitarbeiter in den neuen Methoden und/oder moderiert Prozesse. Manche Unternehmen bilden sogar ihre eigenen Mitarbeiter zum Coach aus, statt Externe zu beauftragen.

Bar Camp: Ein offenes Konferenz- und Workshopformat, bei dem die Teilnehmer den Inhalt und Ablauf zu Beginn selbst entwickeln. Alle Teilnehmer sind zudem dazu angehalten, selbst einen Vortrag zu halten oder zu organisieren.

Design Thinking: Die grundlegenden drei Merkmale sind ein multidisziplinäres, vielseitiges Team, ein flexibles Raumkonzept mit viel Platz für Stehtische, Whiteboards und Materialien sowie das kreative Arbeiten mit striktem Anwenderfokus. Produkte werden anhand stark vereinfachter Prototypen direkt am Kunden getestet. So kann es beispielsweise vorkommen, dass der Prototyp eines Lederportemonnaies zunächst nur aus Knete besteht - eben ganz kreativ.

Impediment: Als Impediment werden Dinge oder Gegebenheiten bezeichnet, die ein Projekt behindern. Das können zum Beispiel kranke Ansprechpartner, unrealistische Deadlines oder auch streikende Computer sein.

Kanban: Der bestehende Workflow wird auf einem einfachen Whiteboard mit Post-Its visualisiert. Jede Notiz repräsentiert dabei eine Aufgabe und sorgt für mehr Transparenz und effizientere Arbeitsteilung.

Product Owner: Eine Rolle, die eine Person beim Scrum einnehmen kann. Sie erstellt eine konkrete Produktvision und formuliert alle fachlichen Anforderungen an das Produkt aus. Sie legt die Reihenfolge fest, in der die Produkteigenschaften entwickelt werden.

Scrum: Teilt die Projektlaufzeit in genau terminierte Etappen, sogenannte "Sprints" ein. Am Ende jedes Sprints muss das Team dem Kunden ein funktionsfähiges Zwischenprodukt vorlegen. Auf der Basis des Kundenfeedbacks startet der nächste Sprint. Der langfristige Plan wird so kontinuierlich angepasst und verbessert. Das Produkt als auch die Planung entwickeln sich stetig weiter. Ronja Tillmann

Doch der Umstieg gelingt nicht immer. Wie viele Unternehmen inzwischen agil arbeiten, lässt sich nicht genau beziffern. Eine bisher unveröffentlichte Studie des Jobportals Stepstone und der Personalberatung Kienbaum ergab aber, dass von den 10 000 befragten Fach- und Führungskräften immerhin 57 Prozent zumindest eine der bekannten agilen Arbeitsmethoden kannten. 45 Prozent gaben an, täglich in einem agilen Arbeitsumfeld tätig zu sein. Zugleich heißt es von Stepstone allerdings auch, dass in nur etwa acht Prozent aller Stellenanzeigen Fachkräfte gesucht würden, die sich in "einem agilen Arbeitsumfeld schnell zurechtfinden können". Beim Konkurrenten Indeed ergab eine Auswertung der Abfragen von Jobinteressenten, dass relativ selten nach agilen Arbeitsstellen gesucht wird: Nur 0,03 Prozent suchten nach den Begriffen "agil", "Scrum" oder "Kanban".

Allerdings würden agile Arbeitsabläufe von den Unternehmen selbst gern in den Stellenbeschreibungen genannt - als Hinweis auf eine moderne Firmenkultur. Das Problem dabei: Agil bedeutet für viele Arbeitnehmer immer noch ungewohnt. Vorgesetzte verlieren an Macht, Mitarbeiter an Bequemlichkeit und Sicherheit. "Agiles Arbeiten gelingt nicht, wenn man die Methodik vor die entsprechende Geisteshaltung stellt", sagt Albert Dahmen. Er leitet beim Versicherungskonzern Axa die Innovationseinheit Transactional Business, kurz TRX. Sein zehnköpfiges Team soll neue Geschäftsfelder erkunden und dabei auch die agilen Abläufe und Techniken erproben. Bevor das Projekt 2015 startete, war Dahmen für 200 Mitarbeiter verantwortlich.

"Ich glaube, viele hat das durchaus irritiert, dass ich diese vermeintliche Hierarchiestufe, die ich mir über Jahre hinweg erkämpft habe, aufgab", sagt er. Bereut habe er diesen Schritt aber nie. Und Dahmen kann mit seinen Leuten Erfolge vorweisen. Vor zwei Jahren beispielsweise durfte sich Axa zu den innovativsten Unternehmen Deutschlands zählen - wegen der im Team TRX entwickelten App "Wayguard", mit der sich die Nutzer auf dem Heimweg begleiten lassen können und die im Notfall automatisch Freunde oder die Polizei alarmiert. Der Weg dorthin dauert allerdings: Wer von heute auf morgen eine Kanban-Wand aufbaue oder einfach einen "Product Owner" ernenne, werde wahrscheinlich scheitern, sagt Dahmen. Erst müsse sich das Denken ändern. Es müsse ständig hinterfragt und reflektiert werden. Gearbeitet werde in kleinen Schritten und eigenverantwortlich. "Ich glaube, dass der enorme Druck, der oft in fest terminierten und langen Projektplänen entsteht, kontraproduktiv ist." Sinnvoller seien kurzfristige Ziele, um schneller zu lernen und entscheiden zu können.

Die Entscheidungen sollten da getroffen werden, wo die Informationen vorliegen

Viele Elemente des agilen Arbeitens, sagt Dahmen, fänden sich heute auch im gesamten Unternehmen wieder, denn das TRX diene seit Gründung auch dazu, die "agile Geisteshaltung" im Konzern zu verbreiten. Alle Mitarbeiter der Axa können dazu regelmäßig bei einem Tag der offenen Tür die Kollegen begleiten.

Für einige dürfte das, was sie da sehen, ein ziemlicher Schock sein: Die Arbeit im agilen Team hat idealerweise nicht mehr viel zu tun mit der Arbeit in einer herkömmlichen Konzernabteilung. In dem neuen Organisationsmodell haben eben nicht mehr nur die Vorgesetzten die Befugnis, wichtige Entscheidungen zu treffen, im Gegenteil: Die Entscheidungen sollen bewusst dort getroffen werden, wo das Wissen sitzt, bei den Fachleuten, den Kundenbetreuern, den Entwicklern. Und bei den Endkunden. Denn die sitzen beim agilen Arbeiten schon möglichst früh mit am Tisch. In der Praxis braucht es für so eine Umstellung manchmal nicht nur eine andere Geisteshaltung, sondern auch anderes Personal. Als beispielsweise bei der ING agil umorganisiert wurde, schrieb das Unternehmen neue Führungspositionen aus. "Alle Mitarbeiter konnten sich auf diese Führungspositionen bewerben", heißt es dazu von ING. "Es gibt aber auch eine Reihe von Führungspositionen, die nicht neu ausgeschrieben wurden." Das sei beispielsweise der Fall gewesen bei Stellen im Risikomanagement oder dem Finanzressort.

Insgesamt habe sich die Personalfluktuation in der Bank seit dem Transformationsprozess kaum verändert, heißt es von ING. Die zuletzt deutlich gewachsene Zahl unzufriedener Mitarbeiter scheint also noch keine akuten Folgen zu haben. Man nehme die Bewertungen sehr ernst, heißt es von der Bank. Allerdings seien die Mitarbeiter auch befragt worden, als die Umstrukturierung "im vollen Gange" war, sagt ein Sprecher. Da gebe es viele Strukturen, die sich erst einspielen müssten. Das sollte bis 2020 passiert sein. Dann werden die Mitarbeiter das nächste Mal befragt.

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