ADHS:Hoffnung für den Zappelphilipp

Sie gelten als Außenseiter und manchmal auch als dumm: Kinder mit ADHS haben große Probleme in der Schule. Neue Studien lassen jedoch vermuten, dass sie ihre Defizite aufholen können.

Julia Bönisch

Moritz kann sich kaum konzentrieren. Sobald er merkt, dass ihm eine Aufgabe nicht gelingt, ist er frustriert und bekommt einen Wutanfall. Deshalb ist der Erstklässler in seiner Schule immer der Außenseiter, Freunde hat er kaum. Auch seine Noten lassen zu wünschen übrig - ein klassisches Problemkind. Seine Eltern sorgen sich schon jetzt darum, ob er es auf die Realschule schafft.

Grundschule Klassenzimmer

Kinder mit ADHS brauchen mehr Aufmerksamkeit von ihren Lehrern.

(Foto: Foto: dpa)

Vor sieben Monaten wurde bei Moritz ADHS diagnostiziert. Die Abkürzung steht für die sperrige Bezeichnung "Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung" - eine Störung, die vor allem Jungen betrifft und schon im Kleinkindalter auftritt. "Mit der Diagnose wurde wenigstens der Druck von mir genommen, in der Erziehung total versagt zu haben", sagt Moritz' Mutter Barbara. "Doch die Angst um seine Zukunft in der Schule bleibt."

Verschiedene aktuelle Studien legen jedoch nahe, dass sich die frühkindliche Störung nicht auf die späteren Leistungen auswirkt. Moritz hat genauso gute Chancen auf eine erfolgreiche Schulkarriere wie seine nicht betroffenen Klassenkameraden.

Lesefähigkeit genauso gut

Eine Untersuchung der Northwestern University in Illinois etwa basiert auf dem Vergleich und der Neubewertung verschiedener ADHS-Studien von 1970 bis heute. In jeder dieser Studien untersuchten Wissenschaftler Hunderte Kinder und erhoben über mehrere Jahre hinweg immer wieder Daten zu deren Lese- und Rechenkompetenz. Auch die emotionale und soziale Entwicklung sowie die Konzentrationsfähigkeit flossen in die Ergebnisse ein.

Das Team der Northwestern University fand keinerlei Hinweise darauf, dass Verhaltensauffälligkeiten im Kindergartenalter im Zusammenhang mit den späteren Leistungen stehen. Kinder, die in Kindergarten und Grundschule Konzentrationsschwierigkeiten hatten, schnitten in der fünften Klasse im Rechnen genauso gut ab wie Klassenkameraden, die keine Verhaltensauffälligkeiten aufwiesen. Auch ihre Lesefähigkeit blieb nicht hinter der anderer Kinder zurück.

Ein Anzeichen für den späteren Erfolg sehen die Forscher zudem in den Mathe-Kompetenzen. Wer im Vorschulalter schon gut rechnen konnte, schnitt auch bei späteren Leistungstests gut ab. Deshalb schlagen die Wissenschaftler vor, für Kindergärten und Vorschulen ein Mathetraining einzuführen.

Isolation von Gleichaltrigen

Solche Ergebnisse könnten den Umgang mit ADHS-Kindern grundlegend verändern. Auch die Auslöser für eine Erkrankung müssen neu bewertet werden. Allerdings wiesen die Wissenschaftler auch darauf hin, dass die emotionalen Probleme Betroffener weiterhin sehr ernst genommen werden müssten. Hyperaktive Kinder haben häufig eine komplizierte oder gestörte Beziehung zu ihren Eltern und isolieren sich von Gleichaltrigen.

Auch die Psychologin und ADHS-Expertin Cordula Neuhaus beurteilt das Ergebnis der Studie vorsichtig. "Wir wissen, dass gerade betroffene Mädchen oft Schwierigkeiten mit dem Rechnen haben. Sie besonders zu fördern, ist natürlich nicht falsch. Doch von ihren Matheproblemen auf den späteren Misserfolg zu schließen, halte ich für gewagt."

Auf der nächsten Seite: Gute Nachrichten für betroffene Kinder und ihre Eltern.

Hoffnung für den Zappelphilipp

Eine zweite Studie, durchgeführt am National Institute of Mental Health in Bethesda, Maryland, untersuchte mit Hilfe von Scans Unterschiede in den Gehirnen von ADHS-Kindern und solchen, die nicht unter der Störung litten.

Bei allen Kindern verlief die Reifung des Gehirns zwar gleich, bei ADHS-Kindern dauerte der Prozess jedoch bis zu fünf Jahre länger als bei nicht betroffenen Kindern. Besonders ausgeprägt war die Verzögerung in Bereichen, die für wichtige Funktionen wie etwa das abstrakte Denken, die Fähigkeit, unpassende Reaktionen unterdrücken zu können oder die Kontrolle der Aufmerksamkeit zuständig sind. Genau die Fähigkeiten also, die bei Kindern mit ADHS häufig beeinträchtigt sind.

Das Bewegungszentrum entwickelte sich zwar sehr schnell, die für die Kontrolle von Bewegungen zuständige Region zeigte aber eine deutlich verzögerte Reifung, berichten die Forscher.

Vielfältiges Krankheitsbild

Was zunächst beängstigend klingt, ist für ADHS-Kinder und ihre Eltern eine gute Nachricht: Die Entwicklung des Gehirns läuft einfach nur verzögert ab, ist aber grundsätzlich normal. Deshalb kann ADHS mit dem Älterwerden der Kinder nach und nach abnehmen.

Auswachsen könne sich ADHS jedoch nicht, sagt die ADHS-Expertin Cordula Neuhaus. Sie warnt davor, betroffenen Eltern und Kindern zu viel Hoffnung zu machen. "Mit solchen Studien sollte man überaus vorsichtig sein. Das Krankheitsbild ist zu vielfältig, als dass man aus einer einzigen Untersuchung solche Schlüsse ziehen kann."

Etwa drei bis zehn Prozent aller Kinder sind wissenschaftlichen Schätzungen zufolge von der Aufmerksamkeitsstörung betroffen, in nahezu jeder Klasse sitzen ein oder mehrere ADHS-Kinder. Neben 25 anderen Schülern bleibt den Lehrern oft zu wenig Zeit, auf ihre speziellen Bedürfnisse einzugehen. Deshalb empfehlen sie häufig viel zu schnell, betroffene Kinder auf Förderschulen für Lernbehinderte zu schicken.

Doch oft ist unklar, ob die unruhigen, unkonzentrierten Kinder in der Schule über- oder unterfordert sind. Zudem sind Lehrer häufig nicht ausreichend über ADHS informiert: Eine falsche Erziehung, heißt es dann, sei schuld am Verhalten der Kinder.

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