50 Jahre Studentenleben:Die Leidgeprüften

Die Studenten streiken mal wieder für bessere Bildung und mehr Freiheit. Das haben frühere Generationen ebenfalls getan, denen es an der Uni auch nicht besser ging. Sechs Erfahrungsberichte.

1959: Der Rektor lud noch in die Oper ein

50 Jahre Studentenleben: Raum für Freizeit, nicht nur im Urlaub:1959 lud der Rektor alle Erstsemester noch zu einer Opernaufführung ein.

Raum für Freizeit, nicht nur im Urlaub:1959 lud der Rektor alle Erstsemester noch zu einer Opernaufführung ein.

(Foto: Foto: dpa)

Ein Abiturient aus der bayerischen Provinz, der, zum Beispiel, Germanistik und Anglistik studieren wollte, kam Ende der fünfziger Jahre eher verunsichert als erwartungsfroh nach München. Denn kurz zuvor hatte er im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung lesen müssen, dass Professoren Alarm geschlagen hatten: Weil Germanistik und Anglistik so überlaufen seien, drohten sie mit einem Numerus clausus.

Es kam dann halb so schlimm: Die Schlangen bei der Einschreibung waren überschaubar, die Vorlesungen zwar gut besucht, aber niemand musste sich seinen Professor im Stehen anhören. Jedem war es selbst überlassen, sich unter 20.000 Kommilitoninnen und Kommilitonen irgendwie zurechtzufinden.

Jeder wusste, wie viele Pro- und Hauptseminarscheine er fürs Examen brauchte. Wie er dazu kam, blieb seine Sache. Wer nicht zum Einzelgänger geboren war, konnte sich einer der damals sehr aktiven politischen Studentenorganisationen oder einer Studentengemeinde anschließen.

Oder er engagierte sich in der Fachschaft. Da fand er dann etwas leichter Zugang zu Assistenten und Lektoren, vielleicht sogar mal zum Ordinarius - und konnte Freunde finden, mit denen ihn nicht nur das Studienfach, sondern auch Freizeitinteressen verbanden. Apropos Freizeit: Der Rektor lud damals alle Erstsemester ins Prinzregententheater zu einer Opernaufführung ein.

1969: Erst die Freiheit, dann die Staatsprüfung

Oh, es gab sie auch in den Nach-68ern, die Strebsamen, die Karrieristen, die früh die Eigentumswohnung Planenden. Wer das junge Leben aber erstmal dazu nutzen wollte, sich zu einem durch und durch politischen, von bürgerlichen Zwängen befreiten Wesen zu entwickeln, der gehörte keineswegs zur Minderheit. Und er war nicht schlecht beraten, Jura zu studieren.

50 Jahre Studentenleben: Die Karrieristen verpassten was: 1969 war auch das Jahr von Woodstock.

Die Karrieristen verpassten was: 1969 war auch das Jahr von Woodstock.

(Foto: Foto: AP)

Zwischenprüfung gab es keine, nur den einen oder anderen Schein, der später die Zulassung zur Ersten Staatsprüfung ermöglichte. Vorlesungen wurden im Wesentlichen und mit einer gewissen Regelmäßigkeit nur von den Erstsemestern besucht.

Die Zeit wurde schließlich für Wichtigeres benötigt: zur Menschwerdung, aber auch zur Ausübung diverser Jobs, die leider unumgänglich waren, um die Abnabelung vom Elternhaus zu gewährleisten. So ging das nun so manches Jahr, und wenn ihm nicht mit der Exmatrikulation wegen überlanger Studiendauer gedroht worden wäre, hätte der eine oder andere das Juristische Staatsexamen dann doch nicht gewagt.

So aber hieß es ranklotzen, nun war ein Intensivkurs beim Repetitor fällig, der die angehenden Assessoren gegen gutes Geld aus dem universitären Wachkoma riss. Die Strebsamen, die früh für die Eigentumswohnung Planenden, steckten da schon mitten in der Zweiten Staatsprüfung. Gut, dass sie nicht wussten, was sie dafür alles versäumt hatten.

1979: Als der grüne Amselfelder kippte

50 Jahre Studentenleben: Der 1989er-Student aus dem Westen ging nach Berlin: Sylvester auf der Mauer vor dem Brandenburger Tor.

Der 1989er-Student aus dem Westen ging nach Berlin: Sylvester auf der Mauer vor dem Brandenburger Tor.

(Foto: Foto: dpa)

1979 hatte der Student ganz einfach Glück. Der Arbeitsmarkt bot noch alle Möglichkeiten; die Angst davor, eventuell nach dem Studium keinen Job zu finden, hielt sich in Grenzen. Die hochpolitischen Zeiten waren vorbei, Marx und Engels waren von den etwas Älteren bereits zur Genüge gelesen worden. K-Gruppen teilten zwar vor der Mensa noch jede Menge Flugblätter aus, aber man musste sie nicht mehr lesen - es reichte zu wissen, dass andere sich um den Widerspruch von Kapital und Arbeit sorgten.

Politik und Soziologie waren nach wie vor populäre Studiengänge, und nur uncoole, konservative Streber studierten BWL oder Jura. Die weiblichen, uncoolen, konservativen Streberinnen trugen damals mit Vorliebe Mode von Benetton, während der durchschnittlich linke, den gerade gegründeten Grünen zuneigende, Müsli essende und Tee trinkende, bisweilen auch mal eine Flasche Amselfelder kippende Lehramtsstudent sich in übergroße Pullover hüllte und K-Way-Windjacken trug.

Vorlesungen hörte man nur, wenn man Langeweile oder gerade nichts Besseres zu tun hatte; lieber setzte man sich mit Kommilitonen zusammen, um wochenlang an einer Seminararbeit zu basteln, die dann zum Schluss in einer Nacht zusammengeschustert wurde. Das Examen? Keine Ahnung, vergessen, muss wohl geklappt haben; nach der Note hat jedenfalls nie wieder jemand gefragt.

1989: Cocktailpartys und Kulturwissenschaft

50 Jahre Studentenleben: Volle Hörsäle und Genderproblematik: die Universität 1999.

Volle Hörsäle und Genderproblematik: die Universität 1999.

(Foto: Foto: dpa)

Der 1989er-Student aus dem Westen ging, früher oder später, nach Berlin. Nicht, weil er den politischen Umbruch des Mauerfalls so stark verspürte - seine Generation war auf der Mitte der Helmut-Kohl-Ära ja bekanntlich ziemlich entpolitisiert. Sondern weil da ein aufregender Freiraum offenstand.

Man lernte Mittelhochdeutsch oder Nominalismusstreit oder so etwas, doch kaum weniger intensiv war für viele der Kurs zur Einführung in neue Verhaltensweisen: Kohleöfen, Techno in alten Bunkern, Cocktails statt Pils, Afterhour-Parties zur Gottesdienstzeit. "From Disco to Disco", hieß damals ein Club-Hit. Mancher behauptete, das alles nur zu Recherchezwecken zu betreiben - nämlich für das neue Fach "Kulturwissenschaft".

In den Neunzigern gab es noch echte Langzeitstudenten. Die theoretischen Grundlagentexte wurden in endlosen S- und U-Bahnfahrten zwischen Ost und West gelesen, dort gab es noch keinen Handy-Empfang. Es war die letzte Studentengeneration, die eine Welt ohne Internet kannte. Hausarbeiten entstanden mitten im Übergang vom Zettelkatalog zum OPAC-Terminal. Man sparte für Computerdinosaurier, die heute im Designmuseum stehen; in den WGs begann das Jaulen der Modems. Waldsterben und Atomtod, das war vorbei. Das Studium lief ab inmitten weltpolitischer Sorglosigkeit, im Zuge des ewigen Aufstiegs des siegreichen Westens. So schien es.

Johan Schloemann

1999: Selbstdreher im Frauenraum

50 Jahre Studentenleben: Die Proteste gehen weiter: 2009 werden in Deutschland die Hörsäle besetzt.

Die Proteste gehen weiter: 2009 werden in Deutschland die Hörsäle besetzt.

(Foto: Foto: dpa)

Früher mal so richtig links. Das war der Ruf des Otto-Suhr-Instituts der FU Berlin zur Jahrtausendwende. Damals, in den Siebzigern, da war das hier noch ein richtig roter Laden, hörte man zur Begrüßung aus Mündern, die mit Selbstdrehtabak verkrümelt waren. Und beim "Ersti"-Ausflug ins widerständige Wendland sangen die älteren Semester den Studienanfängern nach der Adorno-Lektüre Lieder mit Refrains wie "Deutschland verrecke, damit wir leben können" vor.

Es gab auch noch sehr viele Professoren, die es im Seminar, egal ob mit sechs (Theorie des Partisanenkampfes) oder 60 (Das politische System der Bundesrepublik) Teilnehmern, revolutionär-antiautoritär angehen ließen, also eher gemütlich. Da wurde schon mal vom Lehrplan abgewichen, um über die Genderproblematik an sich zu diskutieren - weil bei der letzten Party im "Roten Café" einige männliche StudentInnen (darunter der Autor) den "Frauenraum" gestürmt hatten.

Die Stimmung änderte sich, als mit Thomas Risse 2003 ein Wissenschaftler zum Dekan ernannt wurde, dessen Ruf nicht auf alten RAF-Kontakten, sondern auf brillanten (meist englischsprachigen) Publikationen ruhte. Da war plötzlich einer, der von Konferenz zu Konferenz flitzte und an der Uni trotzdem die Anwesenheit überprüfte. "Es geht ein Riss(e) durchs Institut" dichteten die Selbstdreher. Vergebens. Und dann kam der Bachelor.

2009: Fix und fertig für den Arbeitsmarkt

Für die Generation Praktikum sind Vorlesungen wie Gruppenkuscheln. Das geht beim Platzangebot los. Dank Anwesenheitspflicht beim Bachelor schmiegt man sich auf quietschenden Klappsitzen eng aneinander. Da wird es mollig, und die Uni kann statt in Heizöl in Beamer und Lautsprecher investieren. Praktisch.

Außerdem erfahren die Studenten so menschliche Nähe. Auch praktisch, denn sonst bleibt dafür wenig Zeit. Wer nicht auf Bachelor studiert und bis zur Erschöpfung den verschulten Stundenplan abarbeitet, belegt Zusatzkurse. Spanisch zum Beispiel. Ohne Fremdsprachenkenntnisse sind die Chancen auf dem Arbeitsmarkt gleich Null. Und arbeitslos, das wäre der Horror. Jetzt noch jobben, um sich in den Semesterferien das unbezahlte Praktikum zu leisten.

Zwischen den Terminen noch E-Mails verschicken, wobei man sich im Rechnerraum nicht mit dem Coffee-to-go erwischen lassen sollte. Nebenbei fix die Online-Nachrichten überfliegen, die es von renommierten Medien kostenlos gibt. Praktisch. Doch halt: Darin beklagen sich Politiker, die Studenten seien unpolitisch. Wie wär's, wenn sie sich um ihren Job kümmerten, annehmbare Studienbedingungen schafften. Dann könnten sich die Studenten auf ihr Studium konzentrieren und hätten mal Zeit zum Nachdenken. Das wäre praktisch.

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