Bildung:Wenn Wissenslücken Schule machen

Fachlehrer sind angehalten, nach überflüssigem Stoff zu suchen, doch meist werden sie nur in anderen Disziplinen fündig.

Birgit Taffertshofer

Ballast abwerfen, heißt die neue Devise im Gymnasium. Damit die überforderten Schüler endlich richtig durchstarten können, werden die Lehrpläne im achtjährigen Gymnasium G 8 "entrümpelt". In Nordrhein-Westfalen muss sich kein Schüler der Mittelstufe mehr mit Linsengleichungen herumärgern, chemische Formeln müssen nicht mehr experimentell hergeleitet werden und bei der Weimarer Republik liegt der Fokus allein auf ihrem Untergang. Auch in anderen Bundesländern arbeiten von den Protesten aufgeschreckte Politiker an einem radikalen Umbau der Lehrpläne. Und schon scheint die Lösung gefunden zu sein, die erzürnte Eltern beruhigen könnte.

Schüler, dpa

Unterricht am Gymnasium: Auch die Pädagogen empfinden die Lehrpläne als überladen.

(Foto: Foto: dpa)

Das klingt gut, ist in der Praxis aber nicht so einfach. In Bayern und Hessen hat das Kultusministerium die Fachlehrer an den Schulen aufgefordert, Unterrichtsinhalte zu benennen, die künftig nur noch als freiwilliger Lernstoff im Lehrplan stehen sollen. Doch gerade Fachlehrer halten die Inhalte ihrer Disziplin in aller Regel für besonders wichtig. Sie neigen eher dazu, Kürzungen in anderen Fächern zu empfehlen. Hinzu kommen Forderungen von Lobbygruppen, dieses oder jenes Fach doch bitte auszuweiten: Unternehmer wünschen sich mehr Wirtschaft, Ernährungswissenschaftler mehr Kochunterricht und Gesundheitsexperten mehr Sport. Wie soll das alles gehen?

Wegwerfwissen in allen Fächern

Eine Antwort findet sich vielleicht im schleswig-holsteinischen Neumünster. 750 Schüler besuchen dort die Klaus-Groth-Schule (KGS). Schulleiter Reinhard Rahner und sein Kollegium haben G 8 schon im Jahr 2001 eingeführt - und zwar freiwillig. An der KGS startete das Turbo-Abi als erster Schulversuch in Schleswig-Holstein: Den Lernstoff mussten die Lehrer selbst zusammenstreichen. Fach für Fach suchten die 60 Pädagogen nach verzichtbarem Stoff und erarbeiteten neue Lehrpläne. "Wegwerfwissen gibt es in allen Fächern, da lässt sich vieles streichen", sagt Rahner. Doch das sei nicht das eigentliche Problem. "Jeder Lehrer muss loslassen, was ihm über die Jahre lieb geworden ist, sagt Rahner, "das ist ein Kampf gegen die eigene Trägheit und gegen das Einzelkämpfertum."

Heute steht im Lehrerzimmer in Neumünster die "weiße Tafel": Die Lehrer notieren dort, welches Thema sie in ihrem Unterricht aufgreifen wollen. Danach entwickelt sich nach und nach ein Gesamtkonzept: Die Zeit der Weimarer Republik wird so nicht nur in Geschichte lebendig, sondern auch in Physik, Englisch oder Französisch. "Die Synergieeffekte sind es und die Teamarbeit, die uns wirklich weitergebracht haben", sagt Rahner. Und er weiß, er hat einen entscheidenden Vorteil: Sein Kollegium wollte das achtjährige Gymnasium.

Überladene Lehrpläne

In anderen Gymnasien in Deutschland fehlt diese Überzeugung oftmals. Zu hastig wurde die Gymnasialzeit auf acht Jahre verkürzt. Oft herrscht noch Unsicherheit. Zwar empfinden auch die Pädagogen die Lehrpläne als überladen. Viele befürchten jedes Jahr, mit dem Stoff einfach nicht "durchzukommen". Doch eigene Akzente zu setzen, fällt ihnen oft schwer. Zumal sie auch Angst haben, die Kontrolle über den eigenen Unterricht zu verlieren. Offene Lehrformen verlangen schließlich eine Menge Eigenverantwortung.

"In jedem Wirtschaftsbetrieb erhalten Mitarbeiter Fortbildungen, bevor die Firmenchefs neue Produktionstechniken einführen", beschwert sich Heinz-Peter Meidinger, Vorsitzender des Deutschen Philologenverbands. Von den Lehrern verlangten die Politiker hingegen, von einem Tag auf den anderen völlig neue Unterrichtsmethoden sicher zu beherrschen. In Bayern wurde der Lehrplan bereits um etwa 15 Prozent reduziert, doch die Klagen der Eltern wollen nicht verstummen. Allerdings gibt es im Lehrerkollegium so manchen Widerspruch. Physiklehrer erwarten, dass bereits Schüler der achten Klasse Wurzeln ziehen können. Das aber ist in Mathematik erst später vorgesehen.

Kein Feilschen um Anteile

Unterdessen geht das Kürzen in bayerischen Lehrplänen weiter: Staatssekretär Bernd Sibler (CSU) durchkämmt derzeit mit einer Arbeitsgruppe die G 8-Lehrpläne auf weitere Kürzungsmöglichkeiten. Dabei soll es weniger um das Feilschen um die Anteile einzelner Schulfächer gehen, sagt Sibler. "Wir wollen weg von der Wissensanhäufung hin zum exemplarischen Lernen."

Dorthin wird es noch ein langer Weg sein, sagt Reinhard Rahner aus Neumünster. Und er betont, dass die Schulen den Weg nicht alleine meistern können. "Die Veränderungsprozesse müssen unterstützt werden von außen, von kritischen Freunden", wie er es ausdrückt. In Neumünster lassen sich die Lehrer bis heute von externen Experten im Unterricht besuchen. Die geben ihnen immer wieder Tipps, wie ihnen und den Kindern das Lernen noch mehr Spaß machen kann.

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