ADHS:Wenn frühe Einschulung zur Fehldiagnose führt

Starker Anstieg bei ADHS-Diagnosen

Konzentrationsschwäche ist nicht nur ein Zeichen für ADHS - sondern im jungen Alter auch ganz normal.

(Foto: Julian Stratenschulte/dpa)
  • Kinder, die früh eingeschult werden, erhalten einer Studie zufolge wesentlich öfter die Diagnose ADHS.
  • Viele dieser Diagnosen sind vermutlich falsch, da das jüngere Alter der Kinder unberücksichtigt bleibt, unnötige Behandlungen sind die Folge.
  • Der Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut Manfred Döpfner rät zu einer tendenziell späteren Einschulung und zur Berücksichtigung der emotionalen Entwicklung des Kindes.

Von Christina Berndt

Emmi ist zweifellos ein lebhaftes Kind. Aber das wäre vielleicht nie jemandem negativ aufgefallen, wenn sie nicht auch noch ausgerechnet im September Geburtstag hätte. So nämlich ging sie ihrer Grundschullehrerin erheblich auf den Wecker, und nur weil die Eltern standhaft waren, kam Emmi letztlich gesund aus der Sache raus. Keine Pillen. Kein Stempel, dass mit ihr irgendetwas nicht in Ordnung sei. Emmi durfte lebhaft bleiben.

Anderen September-Kindern ergeht es offenbar nicht so gut wie der kleinen Münchnerin. Das ergibt sich aus einer erstaunlichen Entdeckung, die die Volkswirtin Amelie Wuppermann von der Universität München gemacht hat und die sie an diesem Dienstag gemeinsam mit Wissenschaftlern des Versorgungsatlas vom Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung publiziert: Demnach haben Kinder, die kurz nach ihrem sechsten Geburtstag eingeschult werden, im Vergleich zu Kindern, die bei der Einschulung schon fast sieben Jahre alt sind, ein erheblich größeres Risiko, die Diagnose ADHS zu bekommen. Sie nehmen auch entsprechend häufiger Medikamente gegen das Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom ein, auch "Zappelphilipp-Syndrom" genannt.

Vermutlich viele Fehldiagnosen bei den Jüngsten

"Der Unterschied ist erheblich", sagt Studienleiterin Wuppermann, die Daten von sieben Millionen gesetzlich versicherten Kindern zwischen vier und 14 Jahren aus den Jahren 2008 bis 2011 ausgewertet hat. Demnach wurde von den Kindern, die mit etwa sieben Jahren in die Schule kamen, im Laufe der Grundschulzeit jedes 25. als Zappelphilipp behandelt; von den ein Jahr jüngeren war es dagegen jedes 20.

Es ist zu befürchten, dass viele dieser Diagnosen bei den Jüngsten schlicht nicht stimmen: "Wahrscheinlich ist, dass die Kinder aufgrund ihrer relativen Unreife im Klassenverband eher negativ auffallen", sagt der Kinder- und Jugendpsychiater Martin Holtmann von der LWL-Universitätsklinik Hamm der Universität Bochum.

Dass die Kinder tatsächlich häufiger ADHS haben, etwa weil sie wegen ihres Alters in der Schule überfordert sind, schließt er aus. "Man vergleicht automatisch die Kinder innerhalb einer Klassengemeinschaft", sagt Holtmann, dabei wirkten die jüngsten naturgemäß eher zappelig. Das Verzwickte ist, dass die Merkmale des ADHS wie Konzentrationsunfähigkeit, Unruhe und Impulsivität, nun einmal stark altersabhängig sind, sagt der Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut Manfred Döpfner von der Uni Köln. "Ein jüngeres Kind hat oft größere Schwierigkeiten, den Anforderungen an Ausdauer und Konzentration gerecht zu werden."

Deshalb müsse bei einer so schwerwiegenden Diagnose wie ADHS immer auch berücksichtigt werden, ob das Verhalten eines Jungen oder Mädchens altersentsprechend ist. Schließlich gibt es innerhalb einer Klasse Altersunterschiede von mehr als einem Jahr - "und das ist im Grundschulalter viel", so Döpfner, der auch Mitautor der Leitlinien zur Behandlung des ADHS ist.

Unnötige Medikamente und Krankheits-Stempel

Lehrer stellen aber weitgehend die gleichen Anforderungen an alle Kinder einer Klasse. Und Ärzte lassen sich damit in ihren Diagnosen beeinflussen: "Kinderpsychiater stellen ihre Diagnosen nicht im luftleeren Raum", sagt Holtmann. Sie lassen sich von entnervten Lehrern anstecken und von verzweifelten Eltern, die Sorgen haben, dass ihr Kind in der Schule womöglich abgehängt wird. "Da kann sich leider nicht jeder Arzt davon frei machen", sagt er.

Letztlich hängt es von der Kraft und Bereitschaft von Lehrern ab, ob sie lebendige Kinder wie Emmi auffangen oder sie als hyperaktiv abschreiben. Das zeigt ein weiterer Fund der Münchner Wissenschaftler: Besonders häufig wird die Diagnose der Hyperaktivität demnach bei früh eingeschulten Kindern gestellt, wenn Klassen sehr groß sind oder viele ausländische Kinder dazugehören. Wahrscheinlich fallen unter solchen erschwerten Unterrichtsbedingungen die agilen Jüngsten einfach besonders negativ auf. Die Folge jedenfalls ist, dass die Jüngsten in der Klasse den Stempel bekommen, krank und behandlungsbedürftig zu sein. Und viele von ihnen nehmen auch unnötigerweise Medikamente gegen ihr angebliches ADHS, die sich negativ auf Schlaf und Wachstum auswirken können und das Risiko für Herzprobleme erhöhen.

"Bei einem wirklich unter ADHS leidenden Kind kann die Behandlung ein Segen sein, weil ein solches Kind dann nach einer langen Zeit der Ablehnung und des Gefühls, nichts zu taugen, in die soziale Gemeinschaft integriert werden kann", sagt der Psychiater Holtmann. "Aber eine nicht indizierte Behandlung bei einem Kind, das nicht krank, sondern einfach nur jung ist, sollte unbedingt vermieden werden."

Bei Einschulung auf emotionale Entwicklung der Kinder achten

Es würde wahrscheinlich schon viel helfen, wenn sich Lehrer das individuelle Alter ihrer Schüler vergegenwärtigen, sagt Manfred Döpfner. Für den Psychologen gibt es aber noch eine Konsequenz aus der Studie: "Ich rate tendenziell zur späteren Einschulung eines Kindes, vor allem dann, wenn es in manchen Aspekten entwicklungsverzögert ist und es ihm schwerer fällt, still zu sitzen und sich zu konzentrieren."

Alle Kinder "noch ein Jahr zu Hause nachreifen zu lassen, ist aber nicht die Lösung", sagt Döpfner. "Besonders die fitten sind im letzten Kindergartenjahr oft unterfordert, sie langweilen sich zu Tode." Es sei wichtig, bei der Entscheidung über die Einschulung die gesamte emotionale Entwicklung der Kinder zu berücksichtigen, damit sie am Ende gerne zur Schule gehen - in welchem Alter auch immer.

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