Süddeutsche Zeitung

Wissenschaft:Bitte keine einfachen Wahrheiten

Aspartam im Fruchtgetränk macht Krebs, Acrylamid sowieso. Nicht nur in religiösen Dingen schätzen Menschen klare Standpunkte. Bloß: In der Wissenschaft gibt es selten eindeutige Wahrheiten.

Kommentar von Patrick Illinger

Kürzlich im Fahrstuhl. Ein Kollege blickte mit hochgezogenen Augenbrauen herüber. Wie man so etwas trinken könne, fragte er und meinte irgendein Fruchtgetränk aus dem Automaten in der Cafeteria, das ich in der Hand hielt. Er nahm die Flasche kurz an sich, las das Kleingedruckte, nickte wissend und sagte: "Dachte ich mir doch: Aspartam. Das ist ganz schlimm, das macht Krebs." Dabei setzte er einen Onkologen-Blick auf.

Aspartam also. Wieder etwas Neues, das Krebs macht. Was sagt eigentlich die Studienlage dazu? Leider wenig Erhellendes, wie sich nach etwas Recherche herausstellt. Es gab in der Vergangenheit wohl Verdachtsmomente gegen den Süßstoff, aktuelle Bewertungen von Lebensmittelinstituten und -behörden sehen aber kein besonderes Risiko. Es ist eines der unzählbar vielen Themen, man erinnere sich zum Beispiel an Acrylamid, das vor einigen Jahren im Gespräch war, in denen man sich nach Belieben verrückt machen oder fatalistisch gelassen bleiben kann. In einem Fall gilt man als Weltverschwörer, der ernsthaft annimmt, dass der global-industrielle Nahrungsmittelkomplex ein Krebsgift auf die Menschheit loslässt. Im anderen Fall gilt man als naiv, obrigkeitsgläubig und im Übrigen der eigenen Gesundheit gegenüber verantwortungslos. Dazwischen bleibt meist wenig Raum.

Das Leben ist einfacher, wenn ein paar Eckpunkte geklärt sind

Doch es ist genau dieser Zwischenraum, in dem praktisch alle Antworten auf Fragestellungen mit wissenschaftlichem Hintergrund zu finden sind. Das jedoch bedeutet: mit Unsicherheit zu leben. Und Unsicherheit ist unbequem. Daher suchen wir Menschen so oft nicht nach der Wahrheit, sondern suchen uns eine Wahrheit aus. So reduzieren wir das gefühlte Maß an Unsicherheit. Feste Überzeugungen findet man längst nicht mehr nur in der Kirche, sondern auch in Fragen wie dem Nutzen von Globuli und neuerdings der Gefährlichkeit von Gluten und Laktose. Das geht so weit, dass es als Affront empfunden wird, wenn Mitmenschen keine definitive Haltung einnehmen. Das Leben ist eben einfacher, wenn ein paar Eckpunkte geklärt sind.

Das aber passt ganz und gar nicht zum Wesen der Wissenschaft, auf deren Aussagen man sich bei seinen Überzeugungen oft vermeintlich stützt. In der Wissenschaft gibt es niemals endgültig gesichertes Wissen. Es gibt einen aktuellen Stand der Forschung, eine mehr oder weniger starke Evidenz für dies oder jenes. Und dann, das ist eben Wissenschaft, kommen neue Fakten, neue Daten, und man muss das zuvor für gesichert Gehaltene über Bord werfen. Das heißt nicht, dass Wissenschaft nur Nichtwissen produziert. Es bedeutet lediglich, dass nicht jede Studie, bei der ein paar Mäuse mit Süßstoff gepäppelt wurden, die Gefährlichkeit dieser Substanz beweist.

Leider ist die Wissenschaft selbst im Begriff, ihre große Stärke, das ergebnisoffene Suchen und Fragen, in einem unaufhörlichen Wust von Publikationen zu ertränken. Mehr als 34 000 Studien kann man in Datenbanken zu Stichworten wie Kaffee und Koffein finden. Allein aufgrund statistischer Schwankungen liefern manche dieser Untersuchungen radikale Ergebnisse.

Und so lässt sich, auf der Suche nach einfachen Wahrheiten, dem Kaffee so ziemlich alles nachsagen: dass er das Leben verlängere und dass er Krebs verursache. Die talkshowbedröhnte Öffentlichkeit erfährt dann, dass es hierzu wie zu vielen anderen Themen unterschiedliche Ansichten gibt. Und dann sucht sich jeder seine eigene Wahrheit.

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Quelle:
SZ vom 18.10.2014
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