Als Jules Verne im Jahre 1873 den englischen Exzentriker Phileas Fogg und seinen Diener Passepartout in 80 Tagen um die Welt reisen ließ, benutzten die Romanhelden zwar diverse technische Verkehrsmittel. Doch die kleine Reisegruppe war auch auf störrischen Elefanten, rasanten Schlitten und zu Fuß unterwegs. Zudem mussten Fogg und Passepartout ständig vor Polizisten, Detektiven und aufgebrachten Einheimischen fliehen, sodass für ihre körperliche Aktivität ausreichend gesorgt war. Um sie herum wuselten und rannten die Menschen hin und her; der Globus war in Bewegung. Wären die beiden Abenteurer heute rund um den Erdball unterwegs, würden sie sich wohl wundern, wie träge die Weltbevölkerung mittlerweile geworden ist.
Gerade hat die Weltgesundheitsorganisation WHO alarmierende Zahlen veröffentlicht. Wissenschaftler um Regina Guthold zeigen im Fachmagazin The Lancet Global Health, dass sich 1,4 Milliarden Menschen und damit mehr als ein Viertel der erwachsenen Weltbevölkerung zu wenig bewegen - und deshalb schon bald vermehrt Herz-Kreislauf-Leiden, Diabetes, manche Krebsarten sowie etliche weitere Krankheiten drohen. "Anders als andere große Risiken für die Gesundheit, die mittlerweile sinken, nimmt der Bewegungsmangel weltweit nicht ab", sagt Präventionsexpertin Guthold, die in der WHO-Zentrale in Genf tätig ist. "Im Durchschnitt erreicht mehr als ein Viertel aller Erwachsenen nicht den Level an körperlicher Aktivität, der aus gesundheitlichen Gründen angeraten wäre."
Der Grad der Sesshaftigkeit nimmt überall zu
Die Unterschiede rund um den Globus sind zwar noch erstaunlich ausgeprägt, aber der Grad der Sesshaftigkeit nimmt überall zu. In einigen Ländern sind gar mehr als die Hälfte der Erwachsenen nicht ausreichend aktiv. Am wenigsten Bewegung haben die Menschen in Kuwait (67 Prozent), Saudi-Arabien (53 Prozent), dem Irak (52 Prozent) und Amerikanisch-Samoa (53 Prozent). Aber auch in vielen wohlhabenden westlichen Staaten sowie in Brasilien, Argentinien und Kolumbien liegt der Anteil der Inaktiven bei mehr als 40 Prozent.
Für Deutschland ermittelten die Forscher wenig schmeichelhafte Daten. Mehrere Erhebungen zwischen 2002 und 2016 zeigten, dass sich erstaunliche 42 Prozent der Erwachsenen zu wenig bewegen; darunter 40 Prozent der Männer und 44 Prozent der Frauen. Für die USA liegen die Zahlen bei 40 Prozent - aufgeteilt in 32 Prozent der Männer und 48 Prozent der Frauen. "Wir schauen immer auf die USA herab mit ihren angeblich so vielen Dicken und Trägen, aber so viel besser sind wir in Deutschland gar nicht, im Gegenteil", sagt Martin Halle, Chef der Sportmedizin an der Technischen Universität München. "Wir liegen weltweit in der zweithöchsten Kategorie des Bewegungsmangels. Skandinavien und unsere Nachbarländer stehen im Vergleich deutlich besser da." In Schweden liegt der Anteil der Erwachsenen, die sich zu wenig bewegen, bei schlanken 23 Prozent. In Finnland sind es sogar nur 17 Prozent. Die Schweiz liegt bei 24 Prozent, Österreich bei 30 Prozent, die Niederlande bringen es auf 27 Prozent - alles Zahlen, die deutlich unter dem Anteil der Inaktiven in Deutschland liegen.
Halle fordert ein Umdenken und mehr Bewusstsein dafür, wie wichtig Bewegung ist. "Wir tun die um sich greifende Inaktivität in Deutschland sehr schnell ab", sagt der Sportmediziner. "Aber viele Jugendliche können nicht mehr richtig schwimmen, keinen Ball vernünftig werfen, und jede vierte Sportstunde fällt aus." Diese Befunde spiegeln laut Halle den Zustand unsere Gesellschaft wider - es werden Schwimmbäder geschlossen, Kinder von den Eltern zur Schule gefahren, statt zu laufen oder zu radeln, Jugendliche bleiben zu Hause vor dem Computer, anstatt draußen unterwegs zu sein. "Die Bewegung im Alltag ist immer weniger selbstverständlich geworden, die Inaktivität nimmt zu."
In der weltweiten Analyse zeigt sich auch, dass in Regionen mit hohen Einkommen im Durchschnitt 37 Prozent der Menschen zu wenig aktiv sind, in Staaten mit niedrigem Einkommen sind es hingegen nur 16 Prozent. In den besonders armen Ländern Afrikas wie Uganda, Tansania oder Mosambik trifft dies sogar nur auf sechs Prozent der Bevölkerung zu. Bewegungsmangel ist bisher tatsächlich in erster Linie ein Wohlstandsproblem - mit entsprechenden Zivilisationskrankheiten als Folge.
In der Zeit von 2001 bis 2016 ist der Anteil der inaktiven Erwachsenen weltweit mit ungefähr 28 Prozent zwar in etwa konstant geblieben. In den wohlhabenden Staaten des Westens hat er sich hingegen von 31 auf 37 Prozent erhöht. Den größten Anteil daran hat der WHO-Analyse zufolge neben den USA, Neuseeland, Brasilien und Argentinien - vor allem Deutschland.
Mit zunehmender Entwicklung drohen jedoch auch in Schwellenländern und boomenden Metropolen jene Leiden, die der satte Westen längst kennt. "Urbanisierung führt zu mehr Trägheit", sagt Sportmediziner Halle. "Wer in Rio, Mumbai oder Kinshasa zur neuen Mittelschicht gehört, hat oft zwei Stunden Hinfahrt und zwei Stunden Rückfahrt täglich zur Arbeit zurückzulegen. Klar, dass die Menschen dort abends nicht noch ins Fitnessstudio gehen oder Nordic Walking machen." Aber ein Bewusstsein dafür zu schaffen, wie wichtig regelmäßige Bewegung wäre, könnte dazu beitragen, dass immer mehr Menschen versuchen, die körperliche Aktivität in ihren Tagesablauf einzuplanen. Überall auf der Welt gelte es, mittels Bildung und Aufklärung zu zeigen, wie wichtig ausreichende Bewegung ist. Geld dafür wäre ja in etlichen Regionen vorhanden, besonders im arabischen Raum, wo der Bewegungsmangel besonders ausgeprägt ist.
Außer in Südostasien waren überall auf dem Globus Frauen (32 Prozent) körperlich inaktiver als Männer (23 Prozent). Dies betraf besonders den afrikanischen, arabischen und übrigen asiatischen Raum, die Türkei, die USA und Großbritannien. "Diese Ungleichheit muss thematisiert werden", fordert Fiona Bull, die ebenfalls an der WHO-Studie beteiligt war. "Um weltweit dem Bewegungsmangel abzuhelfen und die Gesundheit zu verbessern, brauchen Frauen bessere Möglichkeiten, um sicher, erschwinglich und kulturell akzeptiert körperlich aktiv sein zu können." Das Bewusstsein dafür sei in vielen Staaten noch nicht genügend ausgeprägt.
Wirtschaftlich aufholen, aber die Gesundheit vernachlässigen - das wird sich rächen
Um Sport und Bewegung stärker zu fördern oder überhaupt erst zu ermöglichen, fordert Melody Ding von der Universität Sydney in einem Kommentar endlich mehr politische Initiative und weltweites Handeln. International drohe sonst eine Zunahme etlicher Leiden. "Der Anteil der Menschen mit Bewegungsmangel liegt in den wohlhabenden Ländern zwar höher, aber die Last der Erkrankungen wiegt in weniger reichen Staaten trotzdem schwerer", warnt Ding. "Zudem führen Urbanisierung und wirtschaftliche Entwicklung zu einem ungesünderen Lebensstil, der mit mehr chronischen Krankheiten einhergeht, wie das jetzt schon in Teilen Brasiliens und Chinas zu beobachten ist." Zwar sei es gut, dass die körperliche Belastung bei der Arbeit und im Haushalt durch wirtschaftlichen Fortschritt zurückgehe, aber zum Ausgleich müsste mehr Aktivität auf dem Weg zur Arbeit, in der Schule, regelmäßige Bewegung am Arbeitsplatz und in der Freizeit eingeplant und unterstützt werden.
Auch Martin Halle sieht große Herausforderungen durch vermehrte Leiden, falls der globale Bewegungsmangel zunehmen sollte. "Wenn etwa China oder Indien den Wechsel zu gesunder Ernährung und mehr Bewegung nicht schaffen, dann haben sie bei der beschleunigten Entwicklung, die sie jetzt erleben, in 15 Jahren ein riesiges Gesundheitsproblem", befürchtet der Präventionsexperte. "Nur wirtschaftlich führend zu sein, aber sich nicht um die Gesundheit zu kümmern, wird sich rächen."
Als Kriterien für ausreichende Bewegung galten in der WHO-Analyse nicht etwa ehrgeizige Trainingspläne für Leistungssportler. Vergleichsweise wenig ist nötig, um Krankheiten vorzubeugen und die Lebenserwartung zu verlängern. Die Wissenschaftler hatten 150 Minuten mäßige körperliche Aktivität oder 75 Minuten anstrengenden Sport in der Woche zugrunde gelegt, wie dies von Medizinern seit Jahren als gesundes Mindestmaß empfohlen wird. "Das entspricht unter der Woche täglich 30 Minuten Gehen oder 15 Minuten zügig aktiv zu sein, sodass man ins Schwitzen kommt", sagt Halle. "Für die gesundheitlichen Aussichten würde das schon viel zum Guten verändern - und ein solches Programm kann man in seinen Alltag eigentlich immer integrieren, wenn man will."
Anders als von Fitnessgurus und Motivationstrainern oft suggeriert, geht es bei der angestrebten Massenbewegung nicht in erster Linie darum, den inneren Schweinehund zu überwinden oder Bestzeiten zu erzielen. Schließlich drohen mit den aufgrund von Bewegungsmangel zu erwartenden Krankheiten enorme Kosten und gesellschaftliche Aufgaben. Abhilfe wäre vergleichsweise leicht. "Man muss die Leute ja nicht erst krank werden lassen, wenn man vorher schon etwas dagegen tun kann", sagt Halle.