Süddeutsche Zeitung

Weltgesundheitsorganisation:Sexsucht wird als Krankheit anerkannt

Videospielsucht, Antibiotikaresistenz, zwanghaftes Sexualverhalten: Die WHO nimmt neue Diagnosen in den Katalog der Krankheiten auf. Den Patienten hilft das Mammutwerk nicht immer - manchmal schadet es sogar.

Von Hanno Charisius und Felix Hütten

Erstmals seit 30 Jahren wird die weltweit gültige Internationale Klassifikation der Krankheiten ICD komplett neu aufgesetzt. Das Kürzel steht für International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems und stellt einen Katalog mit mittlerweile fast 55 000 Krankheiten dar. In dieser Woche trifft sich die Weltgesundheitsorganisation WHO in Genf, um die elfte Version dieses weltweit wichtigsten Klassifikationssystems für medizinische Diagnosen formal zu beschließen. Der ICD11-Katalog soll 2022 in Kraft treten. Eine erste Version ist bereits seit Juni 2018 öffentlich einsehbar.

In dem Katalog listen Experten Krankheiten, Symptome und Verletzungsursachen auf und versehen jeden Eintrag mit einem Code, den Ärzte wiederum benutzen, wenn sie eine Diagnose stellen. Zentral erfasst lassen sich mit diesen Codes präzisere Statistiken erstellen und Gesundheitstrends besser dokumentieren, sagte WHO-Experte Robert Jakob vor Beginn der Tagung.

Knapp 4000 Delegierte aus 194 Mitgliedsstaaten sowie von Partnerorganisationen der WHO werden in Genf erwartet. Das Motto lautet in diesem Jahr "Universal health coverage: leaving no one behind", zu deutsch: "Universelle Gesundheitsversorgung: Niemand soll zurücklassen werden". Viele der Neuerungen, die in diesen Tagen von der Versammlung angenommen werden sollen, sind bereits seit Jahren bekannt. Folgende Neuerungen wird der ICD11-Katalog unter anderem enthalten:

Zwanghaftes Sexualverhalten

Ein eigenes Zusatzhandbuch zum IDC-Katalog erklärt, was unter dem Diagnoseschlüssel "6C72" erfasst werden soll, den die WHO-Experten für "zwanghaftes Sexualverhalten" vergeben haben. Übermäßiger Pornokonsum zählt dazu, genauso wie ausufernder Telefonsex. Die Diagnose ist laut Definition angebracht, wenn Betroffene intensive, wiederkehrende Sexualimpulse über längere Zeiträume nicht kontrollieren können und dies ihr Familien- oder Arbeitsleben oder das Sozialverhalten beeinflusst. Wie bei anderen Süchten auch ist hier die obsessive Beschäftigung und der Kontrollverlust Kern der Definition, wenn also die Betroffenen ihr Verhalten nicht mehr aus eigener Kraft ändern können.

Ohne die offizielle Anerkennung als Krankheit mit ICD-Nummer steht den Betroffenen keine Therapie zu. Künftig können Ärzte und Psychologen die Behandlung der Betroffenen leichter mit den Krankenkassen abrechnen. Bislang müssen sie Ersatzdiagnosen anführen. Experten schätzen die Zahl der Sex- und Pornosüchtigen in Deutschland auf eine halbe Million, die meisten männlich. Indirekt betroffen sind ähnlich viele Partner und andere Familienangehörige. Klassische Verhaltenstherapie bringt meistens wenig. Therapeuten versuchen, Selbstvertrauen aufzubauen, Wissen über die Sucht zu vermitteln und den Betroffenen Wege aufzuweisen, wie sie ihre Verhaltensmuster durchbrechen und mit Reizen umgehen können.

Antibiotikaresistenzen

Um dem wachsenden Problem der Antibiotikaresistenzen zu begegnen, haben die WHO-Experten den ICD-Katalog angepasst, sodass in vielen Bereichen präzisere Statistiken erstellt und Gesundheitstrends besser dokumentiert werden können. So können Ärzte zukünftig zum Beispiel neben der schlichten Diagnose "Lungenentzündung" präzisieren, von welchem Krankheitserreger die Entzündung verursacht wurde, und ob dieser womöglich gegen irgendwelche Wirkstoffe resistent war. Solche Informationen können Medizinern dabei helfen, zu verstehen in welchen Bereichen welche resistenten Erreger besondere Probleme verursachen.

Computerspielsucht

In der neuen Version des ICD soll Computerspielsucht als eigene Diagnose unter dem Schlüssel "6C51" aufgeführt werden. Dies führte besonders unter Jugendlichen zu heftigen Protesten. Vielspieler befürchten, pathologisiert zu werden. Auch die Gaming-Industrie hat kein Interesse daran, dass viele ihre Kunden plötzlich als therapiebedürftig gelten könnten. Experten bemängeln zudem eine eher dünne Studienlage zu dem Thema. So ist bislang nicht klar, wo die Ähnlichkeiten zur Sucht nach Drogen oder Alkohol liegen. Oder ist die Spielsucht vielleicht nur die Folge einer anderen Störung, etwa von Angst oder einer Depression?

Die WHO spricht dann von einer problematischen Spielsucht, wenn ein Mensch mehr als zwölf Monate lang alles in seinem Leben dem Spielen unterordnet, Freunde verliert, die Körperhygiene vernachlässigt. Ob jemand online oder offline spielt, ist für die Diagnose nicht relevant. Entscheidend ist, ob es durch das Verhalten zu Beeinträchtigungen im Sozialleben, in der Schule, bei der Arbeit oder in der Familie kommt. Laut Schätzungen ist das Spielverhalten von etwa zehn bis 15 Prozent der jungen Menschen in Asien nach diesen Kriterien als pathologisch einzustufen, in Europa sollen es bis zu fünf Prozent sein. Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) schätzt, dass in Deutschland etwa ein bis zwei Prozent der Jugendlichen betroffen sind. Meist wird eine Verhaltenstherapie vorgeschlagen, eine Leitlinie zur Behandlung gibt es bislang nicht.

Schlaganfall

Wenn ein Blutgerinnsel eine Ader im Gehirn verstopft und einen Schlaganfall auslöst, wird das zukünftig als neurologische Erkrankung verbucht und nicht mehr wie bisher als Herz-Kreislauf-Erkrankung codiert. Der Schritt ist logisch, da durch einen Schlaganfall Hirnregionen geschädigt werden können, mit neurologischen Ausfällen als Folge, die oft lebenslang anhalten. Neurologen hatten die alte Codierung immer wieder kritisiert, nicht nur weil ihr Fachgebiet dadurch wesentlich kleiner erscheint, als es tatsächlich ist, sondern weil auch in Bevölkerungsstudien Schlaganfälle bislang häufig ausgeklammert wurden.

Fachleute und Patienten kritisieren den ICD-Katalog immer wieder

Der ICD-Katalog wurde 1900 erstmals publiziert und wird fortlaufend erweitert. Elf Jahre haben Experten weltweit an der neuesten Version gearbeitet. Wann die Neuerungen in Deutschland umgesetzt werden, ist noch unklar. Bis es so weit ist, dient der derzeit noch aktuelle Katalog ICD10 der Codierung von Todesursachen für internationale Statistiken. Zusätzlich gilt in Deutschland eine länderspezifische Version des Katalogs - ICD10-GM - zur Verschlüsselung von Diagnosen, mit deren Hilfe niedergelassene Ärzte und Krankenhäuser ihre Kosten bei den Krankenkassen abrechnen. Für die Klassifikation psychischer Störungen gibt es neben dem fünften Kapitel des ICD10-Katalogs auch das Klassifikationssystem der USA, DSM-5. Dies führt unter Patienten und Ärzten immer wieder zur Verwirrung. Allerdings sind die Kataloge weitestgehend aufeinander abgestimmt.

Der ICD-Katalog wird von Fachleuten und Patienten immer wieder massiv kritisiert. Oft wird dabei betont, dass menschliches Leid - ganz grundsätzlich - sich nur schwer in Codes und Nummern übertragen lasse. Ärzte stünden immer wieder vor der Herausforderung, ihre mitunter komplexe Diagnose in eine zu starre Form pressen zu müssen, die letztlich dem Patienten nicht gerecht wird. Dies kann weitreichende Folgen für die Patienten haben, etwa wenn ein einfaches Beratungsgespräch über Herzrasen mit der Krankenkasse als "Angststörung" abgerechnet wird. Solche Diagnosen können beispielsweise über Jahre hinweg den Abschluss einer Versicherung behindern.

Immer wieder wird dem ICD-Katalog zudem vorgeworfen, bestimmte Menschen als krank zu bezeichnen und sie dadurch mehr oder weniger offiziell zu stigmatisieren. Erst im Jahr 1990 wurden Homo- und Bisexualität aus dem damals gültigen ICD9 gestrichen. Transsexualität verschwindet erst in dieser Woche aus dem Katalog der Krankheiten.

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Quelle:
SZ vom 21.05.2019
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