Süddeutsche Zeitung

Venezuela:In Venezuela kollabiert das Gesundheitssystem

Es fehlen Medikamente, Desinfektionsmittel und Moskitonetze: Doch die Regierung will keine Hilfe aus dem Ausland akzeptieren.

Reportage von Valentina Oropeza

Zunächst lachte Jerger León noch tapfer. Der Venezolaner war mit seinen Inlineskates durch eine große Wasserpfütze gefahren und mit voller Wucht auf seinen Rücken geprallt, daheim in Caracas. Wenige Minuten später überfielen den 14-Jährigen jedoch lähmende Schmerzen in der Hüfte. Die Ärzte verschrieben ihm Vitamine und Schmerzmittel, doch sollte der Junge von da an nicht mehr auf die Beine kommen. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich richtig krank, litt bald an Fieber und Appetitverlust und suchte schließlich eine Klinik auf.

Dort stellten die Mediziner fest, dass Jerger an einer seltenen Form von Blutkrebs leidet - einer Variante der akuten myeloischen Leukämie. "Die Heilungschancen sind aber sehr gut", sagt die Krebsmedizinerin Leonor Cárdenas, die Jerger behandelt. Vorausgesetzt, dass die Patienten eine Chemotherapie erhalten. Sechs Medikamente hätte der Junge für seinen letzten Therapiezyklus gebraucht, er bekam nur ein einziges: jene Tabletten, die vermeiden sollen, dass ihm bei der Chemotherapie übel wird.

Jerger León und seine Familie kämpfen gleichzeitig an zwei Fronten: gegen den Blutkrebs und gegen den Mangel an Medikamenten und medizinischem Material. Der nämlich hindert kranke Venezolaner daran, ihre Therapien abzuschließen, er zwingt sie sogar, um Spenden zu bitten oder Medikamente mit anderen Patienten zu tauschen. Oppositionspolitiker fordern von Präsident Nicolás Maduro, endlich den humanitären Notstand auszurufen und damit Hilfeleistungen der Weltgesundheitsorganisation zu erlauben. Doch die Regierung fühlt sich bedroht, sie hält das Ganze für eine Falle, um einen militärischen Einsatz der USA zu begünstigen. Dass die Vereinigten Staaten den Venezolanern beistehen würden, hatte bereits im vergangenen Jahr General John Kelly verkündet, der ehemalige Befehlshaber des südlichen Kommandos der USA.

Es fehle an Essen und Wasser, medizinischer Versorgung und Kleidung

Auch der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Ban Ki-moon, äußerte sich Mitte August "sehr besorgt", weil in Venezuela "die Grundversorgung der Bevölkerung nicht mehr gewährleistet ist". Es fehle an Essen und Wasser, medizinischer Versorgung und Kleidung. Die Regierung des südamerikanischen Landes reduzierte den Etat für die Einfuhr von Arzneien und Medizinprodukten in diesem Jahr um fast 70 Prozent. Durch den Absturz des Ölpreises fehlen die Devisen, mit denen das Land normalerweise fast alles importiert, was es zum Leben braucht: Nahrungsmittel, Medizin und Fahrzeugteile. Sogar das Papier, auf dem die Geldscheine der lokalen Währung Bolívar gedruckt werden.

Neun von zehn Arzneimitteln sind aus den Regalen der Apotheken verschwunden, in den öffentlichen Krankenhäusern fehlen 81 Prozent des medizinischen Zubehörs, so die Schätzungen von Gremien aus Medizin und Industrie. Selbst spezialisierte Apotheken führen keine Aids-Medikamente mehr. In den öffentlichen Krankenhäusern berichten Ärzte, dass es an Desinfektionsmitteln mangele, an Nahtmaterial, um Wunden zu schließen. Und nicht einmal Latexhandschuhe sind vorhanden, um die Patienten zu untersuchen.

Chemotherapie abgebrochen

Im Falle chronischer Erkrankungen wie bei Jerger subventioniert die venezolanische Regierung die Therapie und sorgt dafür, dass die Medikamente bei den Patienten ankommen. Eigentlich. Von den zwölf geplanten Zyklen der Chemotherapie hat der Junge inzwischen sieben hinter sich. In der achten Runde aber weigerten sich die Behörden plötzlich, ihn mit Tretinoin zu versorgen - einem Wirkstoff, der das Risiko von Blutungen und andere Komplikationen der Chemotherapie reduziert.

Eine Alternative dazu gibt es nicht, daher musste der junge Patient seine Chemotherapie abbrechen. "Dabei ist es enorm wichtig, eine kontinuierliche Behandlung durchzuführen", sagt die Ärztin Cárdenas. Jergers Mutter Carmen Bandres wandte sich daher an den einzigen privaten Anbieter des Medikaments in Venezuela. Dort kosten 100 Tabletten jedoch 26 monatliche Mindestlöhne. Dafür müsste die Krankenschwester mehr als zwei Jahre lang arbeiten.

Seit der im Jahr 2003 eingeführten Währungskontrolle importiert die Regierung Medikamente zu einem Vorzugspreis, mit einem Tauschkurs von zehn Bolívar pro Dollar. Unabhängige Händler ohne Zugang zu amtlichen Devisen importieren Arzneien dagegen mit einem Tauschkurs von 1000 Bolívar pro Dollar, dem Richtwert auf dem Schwarzmarkt. Sie sind damit für die meisten Patienten unerschwinglich, im Land mit der höchsten Inflationsrate der Welt.

Maduro führt den Notstand auf einen "Wirtschaftskrieg" des privaten Sektors zurück, um seine Regierung zu destabilisieren. Dafür sollen Firmen angeblich vor allem mit Hamsterkäufen die Regale der Geschäfte und Apotheken leeren. Die Unternehmer dagegen klagen, dass sie die nötigen Zutaten für die Herstellung von Medikamenten nicht importieren können. So lange nicht, bis ihnen der Staat Devisen gewährt, um ihre Schulden von 534 Millionen Dollar bei internationalen Vertriebspartnern tilgen zu können.

Carmen Bandres erhielt drei Medikamente für die Chemotherapie ihres Sohnes durch Spenden, vor allem von Angehörigen anderer Krebspatienten, die inzwischen an ihrer Tumorerkrankung gestorben sind. Und die Mutter tauschte übrig gebliebene Arzneien aus einem früheren Zyklus der Chemotherapie gegen Medikamente, die Jerger für den neuen Zyklus braucht. So ergatterte sie die letzte Arznei, die ihr neben dem Tretinoin noch fehlte.

Wie Bandres suchen Patienten und ihre Angehörigen auch in sozialen Netzwerken nach ihren Medikamenten: Sie twittern den Handelsnamen des Arzneimittels und den Wirkstoff, die nötige Dosierung, ihre Erkrankung und auch ihre Telefonnummer - in der Hoffnung auf den Anruf eines Spenders. Oder wenigstens von jemandem, der ihnen den Wirkstoff verkaufen kann.

Angst vor Epidemien

In der Nacht begann Vanessa Furtado plötzlich zu schwitzen und zu zittern. Sie machte sich einen Tee und ging früh zu Bett, dachte, dass die karibische Sonne ihren Körper an diesem Nachmittag im Pool überhitzt hatte. Furtado arbeitete als Schwimmtrainerin, im Alter von 45 Jahren. Doch am frühen Morgen stieg das Fieber auf mehr als 40 Grad Celsius, und sie litt an furchtbaren Kopfschmerzen.

Furtado suchte mehrere öffentliche Krankenhäuser auf, die kein Geld für Laboruntersuchungen hatten. Schließlich wurde die Schwimmtrainerin mit Malaria diagnostiziert. Ärzte verschrieben ihr das Medikament Chloroquin, überreichten ihr das Rezept allerdings mit der Vorwarnung, dass in Venezuela keine Arzneimittel gegen Malaria zu haben seien.

Bald gelangte der Malaria-Parasit über die Blutbahn bis in Furtados Leber und löste starke Bauchschmerzen aus. Sie hatte Glück: Ein Freund schickte ihr Chloroquin aus den USA. "Vielleicht wäre ich sonst daran gestorben. Ich habe mich in meinem ganzen Leben noch nie so elend gefühlt", sagt Furtado, die sich inzwischen von der Infektion erholt hat.

Lokale Medien berichteten über 23 Todesfälle durch Diphtherie

Vonseiten der Behörden gibt es keine öffentliche Statistik zu Malaria. Doch warnte eine unabhängige Koalition von dreizehn Gesundheitsorganisationen im vergangenen Monat, dass sich allein in diesem Jahr 148 670 Menschen in Venezuela mit Malaria infiziert haben. Das sind 72 Prozent mehr als im Jahr 2015. Als erstes tropisches Land hatte es Venezuela in den 1960er-Jahren geschafft, Malaria auszurotten. Die neuen Infektionsraten kämen einem Rückfall in die Situation vor mehr als 75 Jahren gleich, sagt der ehemalige Gesundheitsminister José Félix Oletta.

Der Spezialist führte den Anstieg auf eine tödliche Kombination zurück: den Mangel an Malariamedikamenten und an Moskitonetzen in Gebieten mit großen Ausbrüchen. Auch fehlen Insektizide, die gegen die Überträger der Malaria versprüht werden können - ebenso wie gegen jene von Dengue, Chikungunya und Zika. Darüber hinaus berichteten lokale Medien über 23 Todesfälle durch Diphtherie - einer bakteriellen Infektion, die in Venezuela seit Jahrzehnten als ausgerottet galt. Die Behörden bestreiten dies allerdings und sprechen von nur vier Infizierten, die bereits in Behandlung seien.

Chaos in Krankenhäusern

Lucila Fonseca leidet an einem Tumor, der die Leistenlymphknoten befallen hat. Um zu überprüfen, ob auch in ihren Knochen Tochtergeschwülste - Metastasen - wachsen, müsste die 69-Jährige eine Szintigrafie machen lassen: Eine radioaktive Substanz würde in ihre Blutgefäße injiziert. Reichert sich die Substanz im Knochen an, spräche das für eine Metastase. Fonseca müsste sich operieren lassen.

Daher fuhr die Patientin kürzlich früh morgens in die Ambulanz eines Krankenhauses im Zentrum von Caracas, ausgerüstet mit Trinkwasser, Toilettenpapier und Keksen. Obwohl die Sonne gerade erst aufgegangen war und Fonseca für diesen Tag einen Termin hatte, standen bereits 23 Personen vor ihr auf der Liste. Der Termin würde sie mehr als einen halben Tag kosten, schätzte Fonseca und nahm auf dem einzigen noch verfügbaren Stuhl im Wartezimmer Platz. Auf den Toiletten der Klinik, so stellte sie fest, gab es kein fließendes Wasser. Bald erfuhr sie, dass kein radioaktives Material zur Durchführung der Szintigrafie vorhanden war. Und dass sich bereits 600 Patienten auf der Warteliste für die Untersuchung eingetragen hatten. Vier bis sechs Monate muss Fonseca nun auf den so wichtigen Termin warten. Und befürchtet, dass sie ihn gar nicht mehr erleben wird.

Abgeschreckt durch den Mangel an Medikamenten, an Material - und einem Gehalt von höchstens 65 Dollar im Monat suchen viele venezolanische Ärzte ihr Glück im Ausland. Daniel Sánchez, Leiter der Abteilung für Anästhesie des Hospitals Vargas in Caracas, erinnert sich noch daran, dass er vor zwei Jahrzehnten in einem Gesundheitszentrum gemeinsam mit 36 weiteren Anästhesisten seine Facharztausbildung begann. Heute arbeiten dort noch acht davon, fast alle stehen kurz vor der Rente. "Wir haben keine Generation, die nachwächst", sagt er. Allein im ersten Quartal dieses Jahres verloren die öffentlichen Krankenhäuser 60 Prozent ihrer Fachärzte, schätzt die Medizinische Organisation Venezuelas. Viele von ihnen wandern auch an Privatkliniken ab.

Jerger León ist Ende September an sein Gymnasium zurückgekehrt. Etwa 15 Kilogramm hat er abgenommen, fünf Rückenmarkpunktionen hinter sich. Seine Mutter hat ihm eine Schutzmaske mitgegeben, um ihn vor Infektionen zu schützen. Sie möchte schließlich nicht gleich wieder nach Medikamenten suchen, zur Behandlung ihres Sohns.

Übersetzung aus dem Spanischen: Astrid Viciano

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Quelle:
SZ vom 19.11.2016/fehu
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