USA:Dokumente der Zuckerindustrie belegen Einfluss auf die Politik
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Von Werner Bartens
Die meisten Erwachsenen dürften sich noch gut an die vielen Ratschläge für eine gesunde Lebensführung erinnern, die sie als Kinder bekommen haben. Manches davon war Unsinn, doch hinter vielem verbarg sich ein wahrer Kern. Einer Warnung konnte man sich kaum entziehen, egal ob man in den 1960ern, 1980ern oder vor nicht langer Zeit die Schulbank drückte: Trink und iss nicht so viel Süßes, das ist schlecht für die Zähne. Erstaunlich, dass gerade diese Binsenweisheit mit viel Aufwand von der Industrie geleugnet wurde. Nicht einmal, nicht zweimal, sondern hundertfach und über Jahrzehnte hinweg.
Ärzte der University of California in San Francisco zeichnen in der aktuellen Ausgabe des Fachblatts PLOS Medicine (online) nach, wie die Zuckerindustrie von 1950 bis 1971 massiv daran arbeitete, die Folgen von gesüßten Getränken und Speisen auf die Zähne zu verharmlosen. Gesundheitswissenschaftler um Cristin Kearns werteten 319 Dokumente von 30 internationalen Lebensmittel- und Süßwarenherstellern aus - darunter Coca-Cola. Dabei zeigte sich, dass der Einfluss der Industrie auf das 1971 in den USA verabschiedete "Nationale Karies-Programm" erheblich war.
Spätestens seit 1950 war nicht nur Zahnärzten und vielen Laien, sondern auch der Lebensmittelindustrie klar, dass Zucker Karies verursachen kann. Die Zahnärzte wollten deshalb zu eingeschränktem Zuckerkonsum raten. Aus den Dokumenten geht hervor, wie die Zuckerindustrie Forschungsprojekte vorschlug, die in eine andere Richtung wiesen, um von der Rolle des Zuckers abzulenken. So sollten Enzyme erforscht werden, die Zahnbelag auflösen und eine Impfung gegen Karies sollte entwickelt werden. Keines dieser Projekte erbrachte relevante Ergebnisse.
Zudem versuchte die Zuckerindustrie gezielt, die Verantwortlichen für das Nationale Karies-Programm an den Gesundheitsinstituten der USA (NIH) zu beeinflussen. Die Führungsspitze des dort angesiedelten NIDR (National Institute of Dental Research) ließ sich umstimmen, sodass sie für Forschungsprogramme zum Thema Karies mehr als drei Viertel der Vorschläge aus einem Bericht der Zuckerindustrie übernahm. Kein Wunder, die Experten des NIDR saßen fast alle im wissenschaftlichen Beirat der Zuckerindustrie.
1969 ließen die obersten Zahnärzte des NIDR verlauten, der Zuckerkonsum könne "zwar theoretisch eingeschränkt" werden, dies sei aber praktisch nicht machbar. "Zahnärzte wussten schon immer, dass weniger Zucker zu weniger Karies führt", sagt Kearns. "Es ist enttäuschend, dass Gesundheitsfragen, über die wir noch heute diskutieren, vor 40 Jahren hätten geklärt werden können. Das Nationale Karies-Programm war eine verpasste Gelegenheit." Erst 2003 ächtete die Weltgesundheitsorganisation WHO Zuckerzusätze in Lebensmitteln als ungesund.
Kearns hat die Unterlagen aus dem Nachlass eines Chemikers, der für die Zuckerindustrie tätig war. Auf mehr als 1500 Seiten sind Briefwechsel und Berichte der Zuckerhersteller dokumentiert. Die Forscher wissen zwar, dass sie ihre Informationen bisher nur aus dieser Quelle beziehen. Die belegten Verflechtungen zwischen Industrie, Politik und Wissenschaft seien aber so stark, dass man die "Sugar Papers" mit dem Beginn der Enthüllungen der "Tobacco Documents" vergleichen könne.
"Die Taktiken erinnern stark an die Usancen der Tabakindustrie zur selben Zeit", sagt Stanton Glantz. Er war in den 1990er-Jahren daran beteiligt, Dokumente der Tabakindustrie zu enthüllen. Als bekannt wurde, in welchem Ausmaß Zigarettenhersteller Politik und Wissenschaft beeinflusst haben, wurden sie dazu verpflichtet, Berichte und Briefe offenzulegen; mittlerweile sind 14 Millionen Dokumente zugänglich. "Unsere Entdeckungen sind ein Weckruf für alle Politiker, die sich um das Wohlergehen der Bevölkerung kümmern", sagt Glantz. "Es geht uns alle an und wir müssen einsehen, dass die Zuckerindustrie - genauso wie die Tabakindustrie - Profit über Gesundheit stellt."