Süddeutsche Zeitung

Untersuchung:Zahl der ADHS-Diagnosen steigt deutlich

  • Unter Wissenschaftlern gibt es immer wieder heftigen Streit über die Erkrankung "Konzentrationsstörung in Verbindung mit Hyperaktivität", kurz: ADHS.
  • Einer neuen Untersuchung der Barmer Krankenkasse zufolge stieg die Zahl der Kinder und Jugendlichen, bei denen ADHS festgestellt wird, zwischen 2011 und 2014 deutlich, und zwar um 11,6 Prozent.
  • Wissenschaftler debattieren, ob die Zahlen nur deshalb steigen, weil zu viele Kinder als "krank" eingestuft werden.

Von Guido Bohsem

Für viele Eltern ist es eine der schlimmsten Vorstellungen: Das Kind ist über die Maßen lebhaft, es kann nicht still sitzen, die Schulnoten leiden ebenso wie das soziale Umfeld. Das sogenannte Zappelphilipp-Syndrom kann eine ganze Familie zur Verzweiflung bringen - und darüber hinaus.

Unter Wissenschaftlern gibt es immer wieder heftigen Streit über die Erkrankung "Konzentrationsstörung in Verbindung mit Hyperaktivität", kurz: ADHS. Vereinfacht gesagt, hegt die eine Seite den Verdacht, es handele sich um eine medizinische Modeerscheinung, die zu viele Kinder zu Kranken erklärt. Andere Experten hingegen verweisen auf eine hohe Dunkelziffer und das große Leid der Betroffenen.

Eine neue Untersuchung der Krankenkasse Barmer dürfte der Diskussion wieder neuen Auftrieb geben. Die Barmer kommt zu dem Schluss, dass die Anzahl der Kinder und Jugendlichen, bei denen ADHS festgestellt wird, zwischen 2011 und 2014 erneut deutlich gestiegen ist, und zwar um 11,6 Prozent. Insgesamt liege die Zahl der Menschen mit der Diagnose ADHS damit bei 808 000, schätzt die Kasse in einem unveröffentlichten Report. Die Untersuchung liegt der Süddeutschen Zeitung vor. In ihr wurden Daten von gut acht Millionen Versicherten ausgewertet.

Vor allem Kinder leiden unter dem Zappelphilipp-Syndrom, ihre Zahl beläuft sich auf insgesamt 635 000. Zehnjährige Jungen stellen das Gros der Patienten dar (11,4 Prozent). Bei Mädchen wird ADHS deutlich seltener diagnostiziert, die größte Patientengruppe sind hier die neunjährigen Schülerinnen mit einem Anteil von 4,3 Prozent. Der deutliche Anstieg der ADHS-Diagnosen erklärt sich nach Angaben der Barmer alleine durch die gestiegene Zahl der festgestellten ADHS-Erkrankungen von älteren Jugendlichen. Hier nahm die Zahl der Diagnosen um 21 Prozent zu.

Zahl der Ritalin-Verschreibungen für ältere Patienten stieg an

Bei der Behandlung von ADHS mit Methylphenidat kam es zu einer uneinheitlichen Entwicklung. Der Wirkstoff, der eine stimulierende Wirkung hat und besser unter dem Handelsnamen Ritalin bekannt ist, wurde bei Kindern unter 15 Jahren seltener verordnet als noch vier Jahre zuvor. Die Zahl der Verschreibungen für ältere Patienten stieg hingegen an. Insgesamt nahmen 2014 rund 330 000 Menschen das Medikament. Die größte Patientengruppe stellten auch hier die zwölfjährigen Jungen (6,2 Prozent).

Weiterhin wird ADHS in den Regionen der Bundesrepublik in sehr unterschiedlichem Ausmaß festgestellt. So liegt die Zahl der Diagnosen bei Jugendlichen in Würzburg und im umliegenden Landkreis 2,5-mal höher als der Bundesdurchschnitt. Die Region ist damit absoluter Spitzenreiter bei der ADHS-Diagnose sowie bei der Verschreibung von Ritalin, das dort etwa dreimal so oft verschrieben wird wie im Bundesschnitt. Ursache könnte laut Barmer eine gehäufte Anzahl von Kinder- und Jugendpsychiatern* sein. Zudem sei die medizinische Fakultät auf die Ausbildung von Medizinern dieser Fachrichtung spezialisiert.

Barmer-Chef Christoph Straub sagte, die regional stark schwankenden Steigerungsraten ließen sich nicht ausschließlich medizinisch begründen. "Zudem sollte sich der therapeutische Ansatz nicht ausschließlich auf die Behandlung mit Ritalin beschränken."

*Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version stand an dieser Stelle "Jugendpsychotherapeuten". Das ist nicht korrekt.

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SZ vom 08.06.2016/dayk
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