Übergewicht:Schlecht behandelt, weil: dick
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Von Werner Bartens
Es ist keine schöne Vorstellung und entspricht auch nicht den Idealen des hippokratischen Eides, den übrigens eh kein Arzt mehr schwört: Auch Doktoren pflegen ihre Vorurteile und Vorlieben und behandeln nicht alle Menschen gleich. Manche Patienten sind schlicht sympathischer und beliebter. Bei anderen Kranken stellen Ärzte hingegen schnell die Überweisung an einen missliebigen Kollegen aus oder versuchen auf andere Weise, sie rasch aus der Praxis oder Klinik zu komplimentieren. Es menschelt eben auch in der Medizin.
Dicke Patienten sind bei vielen Ärzten nicht besonders beliebt. Chirurgen fürchten die abdominelle Fettschürze, die den Zugang zu den Bauchorganen erschwert, wenn sie operieren müssen. Internisten verbinden mit Übergewicht und Fettleibigkeit drohende Krankheiten und unterstellen fülligen Patienten oftmals mangelnde Disziplin. Psychologen aus den USA diskutieren derzeit auf ihrem Jahreskongress, welche Folgen die offene oder unterschwellige Diskriminierung von Dicken hat. Die psychischen, aber auch die körperlichen Folgen können erheblich sein.
Unter dem Schlagwort "Fat Shaming" findet sich ein beeindruckendes Arsenal an Eigenschaften, die Dicken und manchmal sogar jenen, die lediglich keinen durchtrainierten Körper vorzuweisen haben, ungerechtfertigterweise zugeschrieben werden: Faul seien sie und bequem, langsam und irgendwie auch leicht verwahrlost sowie von einer strengen Duftnote umweht. Außerdem fehle ihnen die Motivation.
"In der Medizin kann respektloses Verhalten gegenüber Menschen mit Übergewicht die Patienten beschämen - auch wenn sie angeregt werden sollen, ihren Lebensstil zu verändern und es vielleicht gut gemeint ist", sagt die Psychologin Joan Chrisler vom Connecticut College. "Für die Kranken ist das jedoch purer Stress und kann dazu führen, dass sie zu spät oder gar nicht ärztliche Hilfe aufsuchen."
Aber auch wenn Übergewichtige zeitig zum Arzt gehen, bekommen sie nicht immer eine adäquate Behandlung. So werden Fettleibige häufig aus medizinischen Studien ausgeschlossen und die Forschungsergebnisse - beispielsweise zur richtigen Dosierung eines Medikaments - lassen sich nicht auf sie anwenden. In jüngster Zeit haben Untersuchungen gezeigt, dass die Verordnungen für Antibiotika-Behandlungen, aber auch für Chemotherapien bei Übergewichtigen oftmals zu niedrig ausfallen und somit keine ausreichend wirksame Dosis für eine erfolgversprechende Behandlung erreicht wurde.
Auch im Umgang mit Übergewichtigen in der Praxis gibt es erstaunliche Unterschiede. "Jüngste Forschungsarbeiten zeigen, dass dicken Patienten oftmals nur zur Gewichtsabnahme geraten wird, während bei Normalgewichtigen CT-Aufnahmen, Bluttests oder Physiotherapie angeordnet werden", so Chrisler. "Wenn aufgrund des unterschiedlichen Gewichts unterschiedliche Untersuchungen und Therapien bei Patienten mit der gleichen Krankheit empfohlen werden, ist das unethisch und auch ein Behandlungsfehler."
Zudem besteht immer die Gefahr, dass Beschwerden von Patienten nicht ernst genommen werden, nur weil sie dicker sind. Schnell werden die Symptome auf das Übergewicht geschoben, weitere Untersuchungen unterbleiben, und die eigentliche Ursache wird nicht entdeckt. Kürzlich ergab die Analyse von 300 Obduktionen, dass bei fettleibigen Menschen 1,65-mal häufiger Krankheiten übersehen wurden als bei Normalgewichtigen. Darunter waren auch schwere Leiden wie Lungenkrebs, chronisch-entzündliche Darmerkrankungen oder Herzleiden.
Alltag im Krankenhaus: Ärzte und Pflegepersonal fassen Dicke weniger an
Dicke haben zumeist ein feines Gespür dafür, wenn ihr Gewicht auf Missachtung stößt - sie erleben diese Situation ja nicht nur in Arztpraxen und Kliniken. "Diese Haltung zeigt sich womöglich in Form von Mikroaggressionen, etwa wenn Ärzte oder Pflegepersonal zögern, einen dicken Patienten anzufassen oder den Kopf schütteln, wenn sie das hohe Gewicht in der Patientenakte notieren", sagt Chrisler. "Mit der Zeit ist das sehr belastend und verstärkt das Gefühl der Stigmatisierung."
Der medizinisch verengte Blick auf das Gewicht sieht Fettleibigkeit als Krankheit und Gewichtsverlust als Therapie, gibt die Psychologin Maureen McHugh zu bedenken: "Nach diesem gewichtszentrierten Modell von Gesundheit steht das Gewicht unter der Kontrolle des Einzelnen, und höheres Gewicht wird mit ungesundem Lebensstil gleichgesetzt." Dabei weisen Chrisler wie McHugh darauf hin, dass es keine Forschungsdaten gibt, die seriös belegen, welches Gewicht tatsächlich zu viel ist. Zudem geraten dabei andere Faktoren aus dem Blickfeld, die krank machen können, etwa der Einfluss von Genetik, Ernährung, Stress und Armut. Die einseitige Fixierung auf das Gewicht führe dazu, dass Übergewicht der häufigste Grund für Mobbing in der Schule ist.
Dicke aufgrund ihres Gewichts zu beschämen, ist kränkend und macht krank. "Die Stigmatisierung Fettleibiger bedroht ihre seelische Gesundheit", sagt Psychologin McHugh. "Und das macht wiederum körperlich krank." Ärzte, Pflegekräfte und Psychologen sollten schon in ihrer Ausbildung auf die Arbeit mit Übergewichtigen vorbereitet und die Gefahr der Diskriminierung hingewiesen werden. Beide Psychologinnen sind sich einig: Die Behandlung habe sich auf die psychische wie die körperliche Gesundheit zu richten - und nicht auf das Gewicht.