Übergewicht:Einfacher Grund für ein schweres Problem

Es gilt als ausgemacht, warum die Menschen immer dicker werden: Die zunehmende Schreibtischarbeit ist schuld. Da bleibt nur Zeit für Fastfood. Stimmt so nicht, sagen zwei US-Forscher - und legen eine andere Erklärung für die Adipositas-Welle vor.

Von Werner Bartens

Erklärungen haben Laien wie vermeintliche Experten schnell zur Hand. Wenn sie begründen sollen, warum die Menschen weltweit seit den 1980er-Jahren immer dicker werden, kommen zumeist ganz ähnliche Argumente: Weniger Bewegung im Alltag, Kinder und Jugendliche treiben kaum noch Sport, zudem sei der Konsum von Süßigkeiten und Fastfood dramatisch angestiegen. Etliche weitere Ursachen sind schon von Wissenschaftlern diskutiert worden, darunter die häufige Autonutzung, die veränderte Berufswelt mit kaum noch körperlich fordernden Tätigkeiten und natürlich die Ausdauer, mit der Menschen vor dem Fernseher oder am Computer sitzen.

Nur: Treffen diese Begründungen überhaupt alle zu? Der Ökonom Roland Sturm und der Gesundheitswissenschaftler Ruopeng An haben sich gefragt, was an den populären Deutungen für die Adipositas-Welle wirklich dran ist. "Zahlreiche verschiedene Faktoren wurden schon als Gründe vermutet", sagen Sturm und An. "Aber es zeigt sich, dass einige weitverbreitete Meinungen eindeutig falsch sind - und für andere die qualifizierten Belege fehlen." Im CA Cancer Journal for Clinicians (online) vom heutigen Freitag räumen die beiden Forscher mit etlichen Mythen rund um das zunehmende Übergewicht auf.

Teilnehmerrekorde beim Marathon, so viel Urlaub wie nie. Trotzdem legen die Menschen zu

Wie so oft, wenn populäre Irrtümer entlarvt werden, hätte man selbst darauf kommen können, dass einige der Annahmen falsch oder zumindest fragwürdig sind. Schließlich treiben die Menschen mehr Sport als je zuvor - in den 1970er-Jahren waren Marathonläufe noch eine Veranstaltung für ein paar wenige Extremisten; mittlerweile gibt es jährlich mehr als 500 solcher Läufe weltweit, zu den größten melden sich 50 000 Teilnehmer an. Ein weiterer Punkt: Noch nie in der Geschichte der Menschheit hatte die arbeitende Bevölkerung so viel Freizeit wie heute. In den vielen Mußestunden kann man sich bewegen oder anderen kräftezehrenden Aktivitäten nachgehen - oder auch sich vollstopfen.

Im Vergleich zu den 1980er-Jahren kommen die Menschen heute auch leichter an gesündere und kostengünstigere Nahrungsmittel. Obst und Gemüse sind erschwinglich und fast überall zu haben. Die von Forschern so bezeichneten "Nahrungsmittel-Wüsten" sind kleiner geworden und in anderen Gebieten ganz verschwunden - damit sind Regionen gemeint, in denen es keine oder kaum Auswahl an guten und bezahlbaren Lebensmitteln gibt.

Bleibt die soziale Ungleichheit, die - besonders in wohlhabenden Ländern - Übergewicht und ungesunde Ernährung begünstigt. "Ein üblicher Denkfehler besteht in der Annahme, dass die Übergewichts-Epidemie wachsende gesellschaftliche Unterschiede widerspiegelt und sich die Problemgruppen mit dem größten Gewichtszuwachs eindeutig nach Hautfarbe, Einkommen, Bildung und Wohnort identifizieren lassen", sagt Ruopeng An.

Auch wohlhabende Akademiker nehmen zu

"Es stimmt zwar, dass man in den vergangenen Jahren aus den landesweit erhobenen Daten ablesen konnte, dass der größte Anteil Übergewichtiger in der niedrigsten Bildungsschicht zu finden war." Sieht man sich die Entwicklung des Übergewichts in der Gesellschaft über die Jahre genauer an, ist allerdings ein erstaunlicher Trend zu beobachten: In vier Gruppen nach ihrem Bildungsgrad unterteilt, waren die Akademiker zwar im Durchschnitt am schlanksten und die Hauptschüler am beleibtesten. Der Anstieg erfolgte in den vergangenen 30 Jahren aber nahezu parallel und ähnlich steil. Ein vergleichbarer Trend zeigt sich in der Gewichtsentwicklung, aufgeschlüsselt nach Bevölkerungsgruppen der Schwarzen, der Hispano-Amerikaner und der Weißen. "Die Zunahme der Adipositas verläuft in allen Bevölkerungsgruppen seit drei Jahrzehnten ziemlich ähnlich", sagt An.

Da auch die vor dem Fernseher oder Computer verbrachte Zeit seit etwa 20 Jahren stagniert, bieten Sturm und An eine andere Erklärung für den anhaltenden Trend zum Übergewicht an: Nie waren Lebensmittel so billig und nie haben die Menschen einen so geringen Teil ihres Einkommens dafür verwenden müssen. Wurde in den wohlhabenden Ländern in den 1930er-Jahren noch ein Viertel des Haushaltseinkommens in Lebensmittel investiert, war es in den 1950er-Jahren nur noch ein Fünftel. Mittlerweile beträgt der Anteil weniger als ein Zehntel.

Autos und elektronische Unterhaltung mögen zwar auch zum Anstieg des Übergewichts beigetragen haben. "Aber in unserer Datenanalyse springt besonders die größere Verfügbarkeit von billigen Lebensmitteln hervor - und hier besonders die Rundumversorgung mit gesüßten Getränken und gesalzenen Snacks", sagen Sturm und An.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: