Süddeutsche Zeitung

Überflüssige Behandlungen:Des Schlechten zu viel

Antibiotika bei Erkältungen, Röntgenaufnahmen bei ordinären Rückenschmerzen: Rund ein Drittel der US-Gesundheitsausgaben werden für nutzlose Untersuchungen und Behandlungen verschwendet.

Werner Bartens

Es geht nicht um des Guten zu viel. Es geht um zu viel Schlechtes, Überflüssiges, Schädliches. Immerhin 30 Prozent aller Gesundheitsausgaben in den USA gehen vermutlich für nutzlose Untersuchungen und Behandlungen drauf, sagen Ärzte mehrerer Eliteuniversitäten Nordamerikas. "Das Problem ist unterschätzt und wenig untersucht", schreibt das Team um Deborah Korenstein in den Archives of Internal Medicine (Bd. 172, S. 171, 2012). "Wir müssen wissen, wie oft und wo es vorkommt, um die Gesundheitsversorgung zu verbessern."

Ärzte sprechen von Überdiagnostik und Übertherapie, wenn medizinische Maßnahmen nutzlos sind oder die Nachteile die Vorteile überwiegen. Die Autoren versuchen Art und Ausmaß des Missbrauchs zu erfassen und dokumentieren Dutzende sinnlose oder potenziell gefährliche Verfahren - dazu gehören in vielen Fällen Krebstests, Tumormarker, Spiegelungen von Magen und Darm bei leichten Beschwerden, die Entfernung der Gebärmutter bei gutartigen Neubildungen, Bildgebung bei ordinären Rückenschmerzen und viele Handgriffe, Medikamentengaben und Untersuchungen mehr.

Besonders häufig wurde die Antibiotika-Gabe bei viralen Infekten der Atemwege dokumentiert, die Darstellung der Herzkranzgefäße sowie die Operation eines Bypasses und der Halsschlagader. "Wir müssen bessere Kriterien aufstellen, wann ein Verfahren angemessen ist und wann nicht, um Wildwuchs einzudämmen", fordert Korenstein.

Doch trotz aller Leitlinien und Empfehlungen verordnen mehr als 60 Prozent der Ärzte beharrlich Antibiotika bei grippalen Infekten, obwohl die Mittel nichts gegen Viren ausrichten und nur den Körper schwächen sowie zur Bildung von Resistenzen beitragen. Ein erheblicher Anteil der Koronarangiographien lässt sich ebenso wenig medizinisch rechtfertigen wie die meisten Röntgen- oder Kernspinaufnahmen bei Rückenschmerzen oder gar Tumormarker.

Auch in Deutschland ist die überflüssige Verordnung von Medikamenten und Therapien verbreitet, so dienen beispielsweise bis zu zwei von drei Koronarangiographien nicht der Herzgesundheit, sondern der Amortisation der Geräte. Genaue Zahlen gibt es zwar nicht. "Aber wenn man alles einbezieht, was an zu viel Medizin in Deutschland betrieben wird, sehe ich keinen Grund, von ganz anderen Dimensionen auszugehen", sagt Jürgen Windeler, Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen.

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Quelle:
SZ vom 24.01.2012/beu
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