Süddeutsche Zeitung

Tuberkulose:"Eine Krankheit, die kaum noch zu behandeln ist"

  • Infektionen mit Tuberkulose nehmen weltweit zu. Jedes Jahr gibt es mehr als 10 Millionen neue Fälle der Lungenkrankheit.
  • In Deutschland tauchen jedes Jahr etwa zehn Fälle von "XDR-Tuberkulose" auf, bei denen der Erreger gegen zahlreiche Antibiotika resistent ist.
  • Die Behandlung der resistenten Keime ist äußerst aufwendig und teuer. Patienten müssen monatelang sehr viele auf sie zugeschnittene Medikamente nehmen.
  • Die Bakterien verbreiten sich in winzigen Tröpfchen in der Luft, einmal eingeatmet können sie sich in der Lunge festsetzen.

Von Kai Kupferschmidt

Der Tag, an dem Franz Hagedorn* zusammenbricht, ist der Tag, an dem er sein Studium beginnen sollte. Es ist Herbst 2015, und Hagedorn ist vor Kurzem aus Indien zurückgekommen. Ein freiwilliges soziales Jahr. Auch aus Abenteuerlust, sagt er. In Chennai hat er Englisch unterrichtet und ist in seiner Freizeit durchs Land gereist. Hagedorn ist jung, sportlich. Doch an diesem Morgen steht er auf und kollabiert. Von den nächsten Tagen - Arzt, Krankenhaus, anderes Krankenhaus - bekommt er wenig mit. "Das ist alles sehr schwammig", sagt er. Die Diagnose: Tuberkulose. Ein Mitbringsel aus Indien. Hagedorns Abenteuer ist noch nicht zu Ende, jedoch verwandelt es sich nun in einen Albtraum für den jungen Mann.

Tuberkulose wird von Bakterien verursacht, die die Lunge langsam zersetzen und Patienten dahinsiechen lassen. Trotz der schauderhaften Folgen der Krankheit haftete der Tuberkulose lange etwas Quasi-Romantisches an, das Literaten, Musikern und anderen Künstlern als Inspiration diente. Tatsächlich hat die Tuberkulose wenig Romantisches. Keine Infektionskrankheit tötet mehr Menschen: 1,8 Millionen starben laut Weltgesundheitsorganisation im vergangenen Jahr an der Seuche. Die Bakterien verbreiten sich in winzigen Tröpfchen in der Luft, einmal eingeatmet können sie sich in der Lunge festsetzen. Dort lauern sie Jahre, gar Jahrzehnte. Irgendwann beginnen sie, sich zu teilen. Ganz langsam. E. coli oder andere Bakterien teilen sich im Schnitt alle 20 Minuten. Das Tuberkulosebakterium Mycobacterium tuberculosis teilt sich einmal alle 17 Stunden. In Zeitlupe zerfressen die Keime die Lunge. Ein schleichender Tod.

Monatelang liegt er in der Klinik und nimmt einen Cocktail aus Dutzenden Medikamenten

Franz Hagedorn hat keine normale Tuberkulose. Als seine Ärzte das erste Mal die Testergebnisse sehen, sind sie entsetzt: Das Bakterium ist gegen die beiden wichtigsten Medikamente, Rifampicin und Isoniazid, resistent. Multi-drug resistant, MDR, nennen Ärzte solche Tuberkulose-Erreger. Aber die Liste der Resistenzen geht weiter: Rifabutin, Ethambutol, Moxifloxacin, Levofloxacin, Ofloxacin, Amikacin, Capreomycin, Kanamycin, Prothionamid. Keines dieser Antibiotika kann etwas gegen die Bakterien ausrichten, die sich in der Lunge des junges Mannes ausbreiten. Hagedorn leidet an einer besonders resistenten und gefährlichen Form der Tuberkulose: Extensively drug resistant, kurz XDR-Tuberkulose.

2015 zählte die Weltgesundheitsorganisation erstmals mehr als zehn Millionen neue Tuberkulose-Fälle. Knapp eine halbe Million davon waren multiresistente Keime. Nur etwa ein Zehntel davon sind XDR-Fälle, aber sie bereiten besonders große Probleme. Die Behandlung ist teuer, langwierig und sie kann zu schweren Nebenwirkungen führen. In vielen Ländern fehlen die nötigen Medikamente, ist die Behandlung schlicht zu teuer. Weniger als die Hälfte der Patienten wird geheilt. "Es ist klar, dass diese Erreger sich weiter ausbreiten werden", sagt Stefan Kaufmann, Direktor am Max-Planck-Institut für Infektionsbiologie in Berlin. "Das ist eine Krankheit, die kaum noch zu behandeln ist, und das sollte uns wirklich Sorgen machen." Am Welttuberkulosetag, der an diesem Freitag, 24. März, stattfindet, soll Aufmerksamkeit für die Problematik erzeugt werden.

In Deutschland tauchen pro Jahr nur etwa zehn Fälle von XDR-Tuberkulose auf. Wer sich auf die Suche nach so einem Fall macht, der landet früher oder später in einem kleinen Ort in Schleswig-Holstein: Borstel, 131 Einwohner. Hier befindet sich das Leibniz-Zentrum für Medizin und Biowissenschaften. Eine Ansammlung von Backsteingebäuden, 90 Betten, mehr als 500 Mitarbeiter. 1947 als Tuberkulose-Forschungszentrum gegründet, bildet die Krankheit noch immer einen Schwerpunkt der Arbeit des Zentrums. Die Hälfte aller Fälle von XDR-Tuberkulose in Deutschland wird hier behandelt. 2015 kommt auch Hagedorn hierher.

Monatelang liegt er im Krankenhaus und nimmt einen Cocktail aus Dutzenden Medikamenten. Schon eine normale Tuberkulose ist ein Behandlungsmarathon. Die meisten Bakterien bekommen Ärzte mit einer Woche Antibiotika in den Griff. Bei der Tuberkulose muss ein Cocktail von Medikamenten sechs Monate lang eingenommen werden. Bei der XDR-Tb verlängert sich die Behandlung auf 20 Monate. Die Patienten nehmen Tausende Tabletten. Allein die Medikamente kosteten knapp 100 000 Euro, sagt Christoph Lange, der in Borstel arbeitet.

Lange behandelt vermutlich mehr Patienten mit XDR-Tb in Deutschland als irgendjemand sonst. Und ihm stehen dafür in Borstel außergewöhnliche Ressourcen zur Verfügung: Bei jedem Patienten wird das gesamte Erbgut der Bakterien entschlüsselt. Aus kleinen Abweichungen in den etwa 4,5 Millionen Buchstaben und aus aufwendigen Tests im Labor können die Forscher nicht nur herauslesen, welche Antibiotika bei dem jeweiligen Patienten noch helfen können, sondern auch die richtige Dosierung bestimmen. "Das heißt, wir können sehr früh nach Bekanntwerden der Tuberkulose eine maßgeschneiderte Therapie zusammenstellen", sagt Lange. Die Ärzte überprüfen außerdem die Konzentration der Medikamente im Blut des Patienten, um sicherzugehen, dass auch ausreichend davon die Bakterien erreicht. "Diese Kombination ist wahrscheinlich weltweit einmalig", sagt Lange.

Hagedorn verträgt seine maßgeschneiderte Therapie gut, die Bakterien werden weniger. "Das ist wirklich ein Bilderbuchansprechen", sagt Lange. Die Ärzte werden wohl darauf verzichten können, einen Teil der Lunge zu entfernen. Aber die Therapie bleibt langwierig.

Hagedorn bastelt an der Wand seines Zimmers eine Kugelbahn und schaut den Tischtennisbällen zu, wie sie den Parcours durchlaufen. Als es ihm besser geht, klettert er auf einen alten Turm auf dem Gelände des Forschungszentrums. "Das war schon langweilig", sagt er. Bis Ostern 2016 blieb Hagedorn in Borstel, dann durfte er nach Hause. Das klinge zwar gut, sei aber gar nicht so toll gewesen. "Weil ich dann zwar zu Hause war, aber immer noch fast den gleichen Alltag hatte wie im Krankenhaus", sagt Hagedorn "Ich war immer noch aus dem Leben gerissen."

Über einen Schlauch wird das Medikament direkt ins Herz des Patienten gepumpt

Forscher glaubten lange, dass hochresistente Tuberkulosebakterien vor allem im Laufe der Therapie einer normalen Tuberkulose entstehen. Weil Patienten die Tabletten nicht regelmäßig nehmen oder sie die falsche Therapie erhalten. Tatsächlich bilden sich Resistenzen äußerst schnell. 2011 kamen erstmals seit Jahrzehnten zwei neue Tbc-Medikamente auf den Markt. Ende 2013 gab es bereits Berichte von Patienten, deren Bakterien gegen beide resistent geworden waren. Und Patienten mit so einem resistenten Erreger können auch andere anstecken, und das scheint immer häufiger der Fall zu sein. Im Januar veröffentlichten Forscher im New England Journal of Medicine eine Studie, in der sie 400 Patienten mit XDR-Tuberkulose in Südafrika untersucht hatten. Mehr als die Hälfte von ihnen war offenbar direkt mit dem hochresistenten Keim angesteckt worden.

Das ist offenbar auch bei Hagedorn der Fall gewesen. Dass er sich in Indien angesteckt hat, ist kein Zufall. Mit etwa 60 000 Fällen von XDR-Tuberkulose im Jahr ist das Land stärker betroffen als jedes andere. Das Risiko sei zwar gering, sich dort anzustecken, sagt Lange. "Aber das ist ein Warnsignal." Bei Menschen, die aus solchen Ländern zurückkehren, sollten Ärzte auch an Tuberkulose denken und möglichst früh auch nach Resistenzen suchen.

Inzwischen studiert Hagedorn. Mechatronik. Seine Medikamente sind immer dabei. Das wichtigste Medikament, Meropenem, hält nur vier Tage. Alle drei Tage liefert die Apotheke eine Tasche mit Pillen, Spritzen und großen Plastikbällen voll mit flüssigen Antibiotikum. Die Ärzte haben Hagedorn einen Port gelegt, einen Schlauch, der direkt in eine Herzkammer führt.

Morgens, mittags und abends desinfiziert Hagedorn den Port, lässt ein wenig Kochsalzlösung durchfließen, dann schließt er einen der Gummibälle an. Der Ball presst das Medikament langsam in sein Herz. Dazu kommen jeden Tag zahlreiche Pillen. Wegen des Ports kann Hagedorn nicht schwimmen, Kontaktsport ist auch verboten. Wenn er ein paar Tage weg ist, muss er das der Apotheke melden, damit ihn die Medikamente erreichen. Ins Ausland kann er nicht.

Im Mai kann Hagedorn die Therapie vermutlich beenden. Dann wird der Port entfernt. Dann ist Hagedorns schauriges Abenteuer endgültig vorbei. Dann kann er wieder schwimmen gehen, Kontaktsport machen und außerhalb Deutschlands reisen. Er hat ungeheures Glück gehabt, sagt Lange. "Es ist sehr wahrscheinlich, dass er an dieser Krankheit verstorben wäre, wenn er in Indien geblieben wäre." Hagedorn ist trotzdem bereit für Reisen, ein neues Abenteuer. Vielleicht nach Indonesien. Ob er keine Angst habe, sich wieder eine Krankheit einzufangen? "Nö", sagt er nur.

* Name von der Redaktion geändert

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SZ vom 22.03.2017
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