Tropenkrankheiten:Klein, gemein, erfolgreich

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Ein Pärchenegel: Das Weibchen lebt nach der Kopulation in der Bauchfalte des Männchens. (Foto: CDC/ Dr. Shirley Maddison)

Der tropische Pärchenegel hat bereits 300 Millionen Menschen infiziert. Nun erreicht der Wurm Europa.

Von Kai Kupferschmidt

Das Töten ist schon vorbei, als Joanne Webster und Elsa Leger in den Hinterhof eines Hauses im Norden Senegals treten, in der Stadt Richard Toll. Auf dem Erdboden liegt das blutige Fell eines Bullen, darauf Messer, Macheten und der abgetrennte Schädel. Ein Tierarzt begutachtet die tropfenden Rinderhälften, die an einem Holzbalken hängen. Aber was Webster und ihre Kollegin interessiert, schwimmt in einem schwarzen Plastikeimer in einer Ecke des Hofes: die Gedärme des Tieres. Die beiden Forscherinnen ziehen Plastikhandschuhe über und begutachten den glitschigen Wust Zentimeter für Zentimeter. Nach wenigen Minuten wird Elsa Leger fündig: Mit einer kleinen Schere schneidet sie ein Blutgefäß auf und zieht mit einer Pinzette etwas heraus. "Da", sagt sie und legt es auf den Rand des Eimers. Ein blasser Wurm, so groß wie ein Fingernagel, windet sich auf dem Plastik: ein Pärchenegel.

Der Name klingt harmlos, aber Pärchenegel gehören zu den erfolgreichsten Parasiten der Welt. Rund 300 Millionen Menschen weltweit tragen die Würmer in sich. Bis zu 300 000 Menschen sterben jedes Jahr an den Folgen der Erkrankung, der Bilharziose. Trotzdem haben nur wenige davon gehört. "Sie tötet die Ärmsten der Armen und darum bekommt sie wenig Aufmerksamkeit", sagt die Parasitologin Webster vom Imperial College in London. Die Bilharziose gehört wie Lepra, die Schlafkrankheit und 14 weitere Erkrankungen zu den Leiden, die die Weltgesundheitsorganisation (WHO) als vernachlässigte tropische Krankheiten klassifiziert. Anders als Aids, Malaria und Tuberkulose werden diese Infektionen kaum erforscht. Es fehlt an Aufmerksamkeit und an Geld.

Vernachlässigte tropische Krankheiten sind inzwischen bis nach Europa vorgedrungen

Dabei kommen solche Erkrankungen inzwischen sogar in Europa vor. So untersuchte der Tropenmediziner Johannes Richter von der Universität Düsseldorf im Jahr 2014 einen zwölf Jahre alten Jungen, der an Bilharziose erkrankt war. Das Seltsame: Der Patient war in keinem der Gebiete gewesen, in denen die Würmer vorkommen. "Die Familie war noch nie außerhalb Europas gewesen", erinnert sich Richter. Im Sommer 2013 hatte sie allerdings Urlaub auf Korsika gemacht, Richter vermutete, dass der Junge sich dort beim Baden im Fluss Cavu infiziert haben könnte. Tatsächlich fanden Forscher in den nächsten Monaten mehr als 120 weitere Patienten.

Der deutsche Tropenarzt Theodor Bilharz hatte die Parasiten im Jahr 1851 bei der Obduktion einer Leiche in Kairo entdeckt. Sie setzen sich in den Blutgefäßen von Darm, Blase oder Geschlechtstrakt fest und können dort über Jahrzehnte Eier produzieren, die zu Entzündungen führen und Leber, Niere und Milz schädigen. Es folgen Schmerzen, Blutungen, Durchfall. Langfristig drohen Leberzirrhose, Krebs und Unfruchtbarkeit.

Im Laufe der Evolution haben sich zahlreiche Arten entwickelt. Sie alle gehören zur Gattung Schistosoma, aber befallen unterschiedliche Wirte: Rinder, Ratten, Ziegen - und Menschen. Obwohl es sich bei den vernachlässigten tropischen Krankheiten um Infektionen handelt, ähneln sie eher chronischen Leiden: Sie ziehen sich über Jahre hin, schwächen das Immunsystem, führen zu Unterernährung und verzögern die Entwicklung von Kindern.

Darum geht ihre Bedeutung weit über die Gesundheit hinaus. "Vernachlässigte tropische Krankheiten sind ein wichtiger aber versteckter Grund, warum Menschen der Armut nicht entfliehen können", schreibt der US-Forscher Peter Hotez in seinem Buch "Blue Marble Health". Er spricht von der "bottom billion", der ärmsten Milliarde Menschen. Praktisch jeder von ihnen leide an einer der vernachlässigten tropischen Krankheiten, sagt er.

Die Bilharziose erreichte in den 1980er-Jahren Senegal. "Die Fallzahlen sind regelrecht explodiert", sagt Webster. Damals begann im Nordwesten des Landes der Anbau von Zuckerrohr. Es wurden Kanäle gegraben und ein Staudamm gebaut. Große Wasserflächen wurden zu Süßwasser umgewandelt. Mit dem Süßwasser kamen Schnecken und mit ihnen kamen die Pärchenegel. Der Lebenszyklus des Pärchenegels ist komplex, Schnecken spielen darin eine entscheidende Rolle ( siehe Kasten).

Lange Zeit gab es nur eine Möglichkeit, den Zyklus zu durchbrechen: die Schnecken zu bekämpfen. In den 1950er-Jahren etwa drängte Ägypten die Krankheit erfolgreich zurück, indem es gegen die Schnecken vorging. Noch heute sind sie ein wichtiger Angriffspunkt. Doch in den 1970er-Jahren kam eine weitere Waffe hinzu: Praziquantel, ein in Deutschland entwickeltes Medikament, das die Würmer im Körper der Patienten tötet.

Seit Hotez und andere Forscher 2003 auf einem Treffen in Berlin den Begriff "vernachlässigte tropische Krankheiten" geprägt haben, bekommen diese Leiden ein wenig mehr Aufmerksamkeit. Hotez hat ein einschlägiges Fachjournal gegründet, die WHO hat eine eigene Abteilung für diese Krankheiten geschaffen.

Es gibt Pläne und Programme, auch für die Bilharziose. Sie beruhen vor allem auf der massenhaften Gabe von Praziquantel. Jedes Jahr spendet die Firma Merck Hunderte Millionen Tabletten. Weil es teurer wäre, zunächst auf die Krankheit zu testen und dann nur die Kranken zu behandeln, erhalten in betroffenen Gebieten normalerweise alle Menschen einer bestimmten Altersgruppe die Chemotherapie. Das verhindert zwar nicht, dass sich viele Menschen später erneut infizieren, aber es verringert die schweren Langzeitfolgen.

Die WHO hat gar das Ziel ausgegeben die Bilharziose bis 2025 zumindest in manchen Ländern Afrikas zu eliminieren. Die Parasitologin Webster hält das für zu optimistisch. "Sie unterschätzen die Fähigkeit dieses Parasiten, sich zu verändern", sagt sie. Webster ist in Senegal, weil sie glaubt, dass genau das gerade passiert. Der Parasit könnte hier eine neue Strategie gefunden haben: die Bildung von Hybriden, von Mischlingen, die entstehen, wenn zwei verschiedene Arten sich kreuzen. Hybride seien eine Art Abkürzung der Evolution, weil die Nachfahren sich von beiden Eltern deutlich unterscheiden können, sagt Webster. Solche Mischlinge können viel leistungsfähiger sein als ihre Eltern. Einige Studien deuten darauf hin, dass auch Wurm-Mischlinge fitter sind, schneller wachsen und sich schneller fortpflanzen.

In der Regel gehe man davon aus, dass Schistosoma haematobium, der häufigste Erreger der Bilharziose, nur Menschen infiziert, sagt Webster. Doch schon 2009 haben Forscher Mischlinge aus S. haematobium und dem Rinder-Erreger S. bovis in Kindern gefunden. Diese Hybride könnten womöglich auch Rinder befallen. "Das ist eine exzellente Strategie", sagt Webster. "Stellen Sie sich vor, Sie sind ein Tier, das nur Menschen infizieren kann, und dann können sie plötzlich Menschen und Kühe infizieren und vielleicht noch Ziegen und Schafe. Das ist großartig für das Potenzial des Parasiten."

Er schneidet der Ziege mit dem Messer tief in die Kehle, Blut schießt in Pulsen heraus

Sollte das der Fall sein, hätte der Wurm einen neuen Rückzugsort. "Es gäbe dann ein viel größeres Reservoir für den Erreger, das trockengelegt werden muss", sagt Webster. "Unter Umständen müssen wir die ganze Strategie noch einmal überdenken." Bisher sind Hybride allerdings nur im Menschen und nicht in Rindern, Schafen oder Ziegen gefunden worden. Möglicherweise hat aber noch nie jemand gezielt geschaut. Genau das machen Webster und ihre Mitarbeiter nun.

So stehen Webster und ihre Kollegen an einem heißen Nachmittag an der Hauptstraße von Richard Toll. Autos und Kutschen fahren vorbei. Im Sand neben der Straße, vor einem kleinen Friseursalon, liegt eine Ziege auf der Seite, ein Mann kniet auf ihrer Flanke. Er drückt den Kopf der Ziege in einen gelben Plastikbehälter und schneidet mit dem Messer in die Kehle. Dann dreht er den Kopf der Ziege in den Nacken. Es sieht aus, als würde sich im Hals des Tieres ein riesiges rotes Maul öffnen. Das Blut schießt pulsierend heraus.

Der Anblick tut Webster sichtlich weh. Doch als das zuckende, sterbende Tier in den Sand uriniert, springt sie mit einem kleinen Plastikbecher heran, um die Flüssigkeit aufzufangen. Den Harn kann sie später auf Wurmeier testen. Während der junge Mann das Tier zerlegt, untersuchen die Forscher die Eingeweide. Eine Schlachtung nach der anderen schauen sie sich an auf der Suche nach den Würmern.

Die spielten offensichtlich auch bei den Fällen aus Korsika eine Rolle. In einer Studie, die im vergangenen Jahr veröffentlicht wurde, haben Forscher die Würmer des deutschen Jungen untersucht. Sie hatten genetisches Material sowohl von Schistosoma haematobium als auch Schistosoma bovis. Könnten diese Hybride sich nach Europa ausgebreitet haben, weil sie zäher sind? Infizieren sie möglicherweise auch Rinder oder andere Tiere auf der Insel und verbreiten sich so weiter? Das kann auch Joanne Webster noch nicht beantworten: "Wir beginnen gerade erst zu verstehen, was wir alles nicht wissen über diese Parasiten".

© SZ vom 03.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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