Nur selten erzeugt das Problem Schlagzeilen. Doch im brandenburgischen Brieselang war es in diesem Frühjahr so. Einer der 11.000 Einwohner der Stadt hatte kleine Tiere im Leitungswasser gefunden und die Lokalpresse informiert. Eine regelrechte Hysterie war die Folge.
Feuerwehrautos fuhren nachts durch den Ort und warnten per Lautsprecher vor dem Trinkwasser. Manche Brieselanger steckten sogar ihre Schnittblumen nur noch in Mineralwasser aus Flaschen. Das havelländische Gesundheitsamt empfahl, das Wasser vor dem Trinken und Zähneputzen abzukochen. Man schüttete Chlor in die Leitungen, um etwaige Keime abzutöten.
Der Grund der Aufregung war schnell gefunden. Wasserasseln ( Asellus aquaticus), die zur Gruppe der Krebstiere gehören, hatten sich in den Leitungen von Brieselang breit gemacht. Weniger bekannt ist, dass diese Tierchen kein seltenes oder lokal begrenztes Problem sind. Asseln sind fast überall zu finden, wo Wasser durch Leitungen fließt - wie auch andere, kleinere wirbellose Lebewesen.
Die Asseln krallen sich innen an Rohrleitungen fest, und wenn sie ihren Kot ausscheiden oder sterben, gerät das alles ins Trinkwasser. Wasserwerke überall in Deutschland wissen das, hängen es aber aus guten Gründen nicht an die große Glocke. Eine Aufregung wie in Brieselang möchte kein Wasserversorger erleben, schon gar nicht in einer deutschen Großstadt. "Wasserasseln findet man in vielen Trinkwasserleitungen. Besonders dort, wo Oberflächenwasser zur Trinkwassergewinnung genutzt wird", sagt Günter Gunkel vom Institut für Technischen Umweltschutz der Technischen Universität Berlin.
Ausgerechnet im Leitungswasser, das Menschen bedenkenlos zum Duschen, Zähneputzen, Trinken und für Babybrei benutzen, schwimmen Assel-Kadaver und deren Ausscheidungen? Für weite Teile Deutschlands ist diese Frage mit Ja zu beantworten - allerdings nicht ohne den Zusatz, dass es der menschlichen Gesundheit offenbar nicht schadet.
"In erster Linie ist das Vorkommen von Wasserasseln ein ästhetisches Problem: Es kommt zu Verbraucherbeschwerden, wenn die Tiere bis zum Wasserhahn oder vor den Hausfilter des Kunden gelangen, was eine verringerte Akzeptanz des Lebensmittels Trinkwasser zur Folge hat" - so schreibt es Gunkel in der Broschüre "Wasser Berlin 09".
Was Installateure wie Laien als Rost in den Rohren bezeichnen würden, ergaben Analysen der TU Berlin, ist tatsächlich zu großen Teilen Asselkot. "Asselkot ist im Wasser sehr stabil (über zwei Wochen), reichert sich somit im Rohrnetz an. Die im Allgemeinen als Rostablagerungen angesprochenen Feststoffe im Rohrnetz bestanden in den untersuchten norddeutschen Städten zu 30 bis 70 Prozent aus Asselkot."
Natürlicherweise leben Wasserasseln, die bis zu zwei Zentimeter lang werden, in stehenden oder langsam fließenden Gewässern, wo sie sich von zerfallenden Pflanzenresten ernähren. Ihr vom Rücken zum Bauch hin abgeplatteter Körper ist in neun Glieder geteilt. Sie besitzen sowohl Lungen wie auch Kiemenanhänge, können allerdings nicht schwimmen. Mit ihren sieben Beinpaaren krabbeln sie auf glatten Oberflächen herum und widerstehen starker Strömung.
Das Weibchen legt bis zu 100 Eier in einen Brutsack, und nach einigen Wochen schlüpft der Nachwuchs, der rasch wächst. Trocknen die Tümpel, Pfützen oder Bäche aus, gräbt sich die Assel in den Schlamm ein und kann dort sogar monatelange Frostphasen überleben. Sie hält Wassertemperaturen von weniger als vier Grad aus. Und offenbar findet sie auch Gefallen an Trinkwasserrohren.
Entlang der Rohre sammeln sich allerlei organische Substanzen, von denen die Assel gut leben kann. Diese werden von Bakterien gefressen, und von denen ernähren sich wiederum die Asseln; auch tote Artgenossen werden vertilgt. Obendrein machen der Assel Ozon und Chlor, die gängigen Chemikalien zur Wasseraufbereitung, recht wenig aus. Um eine Assel zu töten, wäre so viel Chlor nötig, dass das Trinkwasser ungenießbar werden würde. Ozon, UV-Bestrahlung oder Ultraschall erwiesen sich ebenfalls als wirkungslos.
Die deutschen Wasserversorger, organisiert im Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft, verweisen auf ein Gutachten, in dem steht, dass es die Asseln in Wasserrohren gibt, seit es Wasserrohre gibt, und wie sie bekämpft werden können.
Die Belastung der deutschen Trinkwassernetze mit Asseln scheint demnach regional recht unterschiedlich zu sein. Während im Norden und Osten viel Oberflächenwasser, beispielsweise aus Talsperren oder Flüssen, als Trinkwasser genutzt wird, können Wasserwerke im Süden auf Grundwasser setzen, das den Tieren weniger Nahrung bietet. Bereits im Jahr 2001 kam eine Studie zu dem Schluss, dass etwa im Osten Berlins viele Asseln im Rohrnetz leben.
In Bayern seien die Asseln kein Problem, beruhigt Jörn-Helge Möller vom Verband der Energie- und Wasserwirtschaft. Das Wasser stamme größtenteils aus Grundwasser, "und in unseren Leitungen bildet sich kaum oder nicht in ausreichendem Maße der Film, von dem die Asseln leben". Generell kommen in Grundwasser wesentlich weniger Organismen vor als in Talsperrenwasser. Je nach Herkunft leben in einem Kubikmeter Talsperrenwasser bis zu 7700 Organismen, in Grundwasser hingegen weniger als 1000, vor allem Kleinkrebse und Rädertiere.
Das Wasser enthalte weniger Kohlenstoffverbindungen, sagt Möller, und vor allem würden die Rohre wegen eines höheren Wasserverbrauchs - er liegt in Bayern nach Möllers Angaben bei 140 Litern pro Kopf und Tag, in Brandenburg nur bei etwa 90 - häufiger durchgespült.
Asseln schätzen ruhiges Wasser und meiden Turbulenzen. "In den teils unsanierten oder maroden Leitungen im Osten Deutschlands steht das Wasser oft lange. Hinzu kommt die Entvölkerung vieler Gegenden, sodass tagelang kein Hahn aufgedreht wird", sagt Möller. Diese Faktoren begünstigen das Gedeihen der Asseln.
Im Hamburg der 1960er Jahre waren Asseln im Trinkwasser ein großes Thema. Die Tiere wurden damals mit Chemikalien wie Pyrethrin bekämpft und das Rohrnetz wurde von innen neu versiegelt. Ganz beseitigen konnte man die Tiere aber nicht, in Rohrwinkeln und Fugen versteckt überlebten viele Asseln die Säuberungsaktionen. Und so schlagen sich die Tierchen bis heute durch, nicht überall, aber vielerorts. Die Asseln dringen über Oberflächenwasser an undichten Stellen in die Wasserwerke ein und gelangen so in das eigentlich weitgehend saubere Trinkwasser.
Problematisch wird es immer dann, wenn die Asseln sterben und die toten Tiere längere Zeit an einer Stelle im Rohr, etwa an einem Filter am Anschluss einer Wohnung oder eines Hauses, verwesen. Das geschieht zum Beispiel, wenn die Bewohner verreist sind und über Tage und Wochen kein Wasserhahn aufgedreht wird. Verwesen die kleinen Krebstiere, bilden sich Keime.
Öffnet der Heimgekehrte nach seiner Rückkehr den Wasserhahn, kommt ihm ein Schwall von Bakterien entgegen. "Diese Dosis ist wohl nicht gesundheitsgefährlich, solange man nicht gerade eine offene Wunde unter dem Wasserhahn ausspült", sagt Wasserforscher Gunkel, "aber die Grenzwerte für Keimbelastungen werden sicherlich überschritten."
Ohnmächtige Wassertierchen
Gunkel schlägt eine neue Waffe gegen die Trinkwasserparasiten vor, denn herkömmliche Hochdruckspülungen zur Rohrreinigung sind wirkungslos. Je stärker der Wasserdruck, umso fester krallen sich die Tierchen in den Leitungen fest. In Experimenten reicherte Gunkel Wasser mit Kohlendioxid an und spülte es in die Leitungen. Die Asseln wurden, so man dies bei Wirbellosen sagen kann, ohnmächtig und konnten durch normale Druckspülungen aus den Rohren gelöst werden.
In dem 70 Kilometer langen Rohrnetz von Brieselang wird das derzeit gemacht. An einem Hydranten wird Wasser entnommen, mit Kohlendioxid angereichert und in einen zweiten Hydranten wieder eingespeist. An einem dritten Entnahmepunkt sieben Filter die betäubten Asseln heraus. Wenige Tiere waren es nicht, die zum Vorschein kamen: "Wir haben Tausende Asseln pro Kilometer Rohrnetz gefunden", sagt Gunkel.
"Für Bayern kann ich fast meine Hand ins Feuer legen, dass wir dieses Problem nicht haben", sagt Verbands-Geschäftsführer Jörn-Helge Möller, allerdings könne er "nicht für jeden der 2400 Wasserversorger im Land alles restlos ausschließen". Das Bayerische Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL) beantwortete eine Anfrage so: "Ein Eintritt ins Trinkwassernetz wird dadurch vermieden, dass auf die Förderrohre Mikrosiebe aus Metall oder im Schacht Siebnetze aufgesetzt werden."
Wirkungsvoller wäre es aber, so die Studie "Wasserasseln in Wasserversorgungsanlagen", das Trinkwasser generell und nicht nur deutschlandweit sauberer und freier von Mikroorganismen und Kohlenstoffverbindungen zu bekommen. Denn dann verhungert die Assel einfach.