Umgang mit Demenz:Warten an der Endstation

Vielerorts in Deutschland warten Senioren auf einen Bus, der niemals kommt. Die Haltestellen sind Attrappen, die Demenzpatienten vom Davonlaufen abhalten sollen. Eine höchst umstrittene Einrichtung.

Berit Uhlmann

Die Heimbewohner aus Remscheid nahmen an einer nagelneuen Haltestelle Platz und warteten. Ein Bus ist allerdings bis heute nicht gekommen, seit die Haltestelle im Jahr 2006 aufgestellt wurde.

Senioren-Bushaltestelle, Landhaus im Laspert

Die Senioren in Remscheid warten auf einen Bus, der niemals kommen wird.

(Foto: Foto: Seniorenpflegeheim Landhaus im Laspert)

Die seltsame Szene ließ Pflegeexperten in ganz Deutschland aufmerken. Sitzbank, Fahrplan und Halteschild waren Attrappen, aber offenkundig geeignet, demenzkranke Heimbewohner in ihrem Drang wegzulaufen zu bremsen.

Seither harren in immer mehr geriatrischen Einrichtungen Deutschlands Menschen mit Alzheimer oder anderen Demenzleiden an fingierten Haltestellen aus. Manche der grün-gelben Schilder sind sogar mitten in den Gebäuden aufgestellt.

Auf viele Pflegekräfte wirkt dies weniger bizarr als auf Laien. Die Betreuer erleben täglich, dass Demenz-Patienten auf der Bettkante sitzen und fragen, wann der Zug endlich in ihrem Heimatort halte. Andere Kranke verlassen die Einrichtungen, weil sie glauben, dass Arbeit oder die Familie auf sie warteten.

Alzheimer-Patienten sind bei derartigen Alleingängen schon tödlich verunglückt. Kein Heim will so etwas erleben. Doch rechtfertigt dies, Patienten so hinters Licht zu führen?

Vera Loinjak, Leiterin des Remscheider Altenheims Landhaus im Laspert, ist vier Jahre nach Installation der Schein-Haltestelle von deren Nutzen überzeugt.

Den Einfall hatte sie, als ihr Antrag auf eine echte Haltestelle vor dem Haus abgelehnt wurde. Wenn es nun Senioren aus dem Heim drängt, nehmen die Betreuer sie mit zur Bushaltestelle. "Man unterhält sich über das Wetter und die Blumen und bald haben die Patienten vergessen, wo sie hinwollten", sagt Loinjak.

Fragen, warum an dem Schild kein Bus halte, habe sie noch nie gehört. An der Schein-Haltestelle im Geschwister-Louis-Haus in Vossenack in der Eifel beschweren sich Heimbewohner gelegentlich schon, dass kein Bus komme, räumt Heimleiter Helmut Rüttgers ein. Seine Mitarbeiter erklärten in diesen Fällen, dass der Bus ausfalle: "Dann gehen die Bewohner wieder mit ins Haus."

Nicht jeder ist überzeugt, dass dies reibungslos funktioniert. Der Medizinische Dienst des Spitzenverbandes der Krankenkassen glaubt, dass Kranke eher nervös als ruhig werden, wenn sie vergeblich auf ihr Fortkommen warten.

"Wartesäle auf den Tod"

Das Gremium wirft den Heimen vor, die verzerrte Realität der Kranken zu funktionalisieren, um weniger den Patienten als den Pflegekräften Ruhe zu verschaffen.

Pflegeexpertin Adelheid von Stösser sieht in den fingierten Haltestellen gar eine beunruhigende Entwicklung versinnbildlicht. Viele Heime glichen heute "Wartesälen auf den Tod", in denen die Bewohner ihre letzten Monate oder Jahre untätig absitzen müssten.

Susanne Saxl von der Deutschen Alzheimer Gesellschaft hat hingegen grundsätzlich nichts gegen die Attrappen einzuwenden. Entscheidend sei, wie man sie nutze. Wer unruhige Patienten zu einem Spaziergang zur Haltestelle einlade und ihnen dabei Verständnis und Anteilnahme entgegenbringe, könne sie unter Umständen beruhigen.

Dass die Reaktionen ebenso unterschiedlich wie gefühlsbetont ausfallen, liegt auch daran, dass Nutzen und Auswirkungen der Haltestellen-Attrappen noch nicht wissenschaftlich überprüft worden sind.

"Hier wird im Umgang mit kranken Menschen mit der Methode ,trial and error' gearbeitet", sagt Pflegewissenschaftler Detlef Rüsing, Leiter des Dialog- und Transferzentrums Demenz an der Universität Witten/Herdecke. "Und wer Menschen so täuscht, läuft Gefahr, sie nicht ernst zu nehmen."

So stehen die Pseudo-Haltestellen letztlich für eine heikle Entwicklung in der Geriatrie. Was in der Psychiatrie eigentlich Tabu ist, praktizieren überforderte Pflegekräfte im Umgang mit Demenzkranken immer häufiger: Sie lassen sich auf die Wahnvorstellungen der Kranken ein.

Dies, so Rüsing, zementiere die wahnhaften Ideen der Alzheimer-Patienten. Der Experte, der selbst 16 Jahre in der Pflege gearbeitet hat, ist überzeugt, dass dieses Verhalten letztlich auch den Pflegenden nicht gut tut. "Wer täglich in die Wahnwelten Dutzender Patienten eintaucht, wird auf Dauer zermürbt."

Nach Rüsings Ansicht können Heim-Mitarbeiter das Weglaufen am besten unterbinden, indem sie zu ergründen versuchen, warum sich die Kranken so getrieben fühlen. Wer immer wieder zur Arbeit gehen will, braucht vielleicht nur etwas mehr Beschäftigung.

Biete man Heimbewohnern genug Abwechslung und Betätigung, komme es oft gar nicht zu der motorischen Unruhe. Auch Angst und Desorientierung führten häufig zu dem Umherlaufen. Helfen könnten in diesen Fällen Zuwendung sowie der Rückgriff auf vertraute Gegenstände und Rituale. "Gute Heime leisten dies", sagt Rüsing.

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