Der Fall wurde schnell so groß, dass Hilfe von außen her musste. Als der Vorstand des Göttinger Universitätsklinikums im Sommer 2012 feststellte, dass Ärzte des Hauses offenbar zahlreichen Patienten regelwidrig Spenderlebern verschafft hatten, wollte er es genau wissen: Er berief eine externe Expertenkommission, um sämtliche Transplantationen zwischen Oktober 2008 und November 2011 zu überprüfen. In dieser Zeit war Doktor O. Leiter der Göttinger Transplantationschirurgie gewesen - jener Arzt, der sich derzeit vor Gericht für die Vorgänge in seiner Abteilung verantworten muss.
Dieser Bericht der Expertenkommission, der bisher unter Verschluss war, liegt der Süddeutschen Zeitung nun vor. Er ist von großer Bedeutung, weil die drei Gutachter - Matthias Rothmund, ehemaliger Medizin-Dekan der Universität Marburg, Wolfgang Fleig, Vorstand des Universitätsklinikums Leipzig, und der Chirurg Manfred Stangl vom Münchner Klinikum Großhadern - die Vorgänge so akribisch wie keine andere Kommission durchleuchtet haben. Sie haben nicht nur Patientenakten gesichtet, sondern auch mit Mitarbeitern gesprochen und Verträge, Qualitätsberichte und Aktennotizen ausgewertet.
Ihr Bericht zeichnet ein erschreckendes Bild von den Geschehnissen in Göttingen. Die Gutachter lassen aber auch kaum ein gutes Haar am gesamten deutschen Transplantationssystem, in dem die gesetzlich verfügte Trennung der Zuständigkeit für Organspende, Organvermittlung und Organtransplantation nur rudimentär umgesetzt sei und in dem es an Kontrolle fehle.
Letzteres haben die Ärzte in Göttingen offenbar weithin ausgenutzt: Bei der Prüfung aller 128 Patienten aus der Ära O. stellten die Gutachter 61 Verstöße gegen die Regeln für Transplantationen fest. In 34 dieser Fälle wurden der Rothmund-Kommission zufolge Blutwerte von Patienten manipuliert oder fehlerhafte Daten angegeben, wodurch die Kranken schneller eine Leber erhielten, als sie ihnen zugestanden hätte.
In einem Fall zum Beispiel bescheinigten die Ärzte einem Patienten, sein Blutgerinnungswert habe sich dramatisch verschlechtert. Der Zahl in der Akte zufolge hätte der Mann nach einer kleinen Verletzung verbluten können. Dennoch schickten die Mediziner ihn ohne jegliche Behandlung nach Hause. Sie wussten offenbar, so die Gutachter, dass die gefährliche Blutungsneigung gar nicht real war. Wenig später bekam der Patient - wegen seines dramatischen Werts - eine Leber zugeteilt.
Offenbar galt auch die Regel wenig, wonach Alkoholiker sechs Monate trocken sein müssen, bevor sie Anrecht auf eine Spenderleber haben. Eklatant ist der Fall eines akut abhängigen Mannes, der "direkt aus dem in der Vorwoche begonnenen Alkoholentzug" ein Organ bekam - nachdem er im Suff zusammengebrochen war. Nach der Transplantation überwies man ihn wieder in die Entzugsklinik.
Um elf solcher "Manipulationsfälle" geht es auch in dem Prozess gegen den Mediziner O.. Ihm wird versuchter Totschlag vorgeworfen, weil Patienten, die wegen der Manipulationen länger auf ein Spenderorgan warten mussten, womöglich verstorben sind. Richter Ralf Günther hat bereits angekündigt, dass er eine Haftstrafe ohne Bewährung für wahrscheinlich hält.
Weitere 27 Transplantationen hätten zudem nach Meinung der Rothmund-Kommission gar nicht stattfinden dürfen, weil medizinische Gründe dagegen sprachen. Bei manchen der Empfänger habe die Transplantation "das Leben eher verkürzt als verlängert", so die Gutachter. Drei dieser Fälle werden vor Gericht als "Körperverletzung mit Todesfolge" verhandelt. Allerdings will Richter Günther diesen Vorwurf fallen lassen: Ärzte könnten sehr unterschiedlicher Auffassung darüber sein, "wann der richtige Zeitpunkt für eine Lebertransplantation ist", sagte er.
Die Rothmund-Kommission ist anderer Ansicht: Die Transplantationen seien in allen 27 Fällen "in keiner Weise nachvollziehbar" gewesen, heißt es im Bericht. So erhielt eine Patientin ein Organ, "obwohl der Verdacht auf Metastasen außerhalb der Leber deutlich geäußert wurde". Solche Krebsherde sprechen gegen eine Transplantation, denn um die Abstoßung des neuen Organs zu verhindern, wird das Immunsystem unterdrückt. Es kann dann auch die Krebsherde nicht mehr in Schach halten - sie wuchern explosionsartig.
Weshalb aber nahm O.s Team diese 27 Transplantationen dann vor? "Steigerung der eigenen Reputation, falsches Verständnis, den Patienten ,helfen zu wollen', finanzielle Anreize", mutmaßen die Gutachter. Zwar seien in der Ära O. nur wenige Privatpatienten und Selbstzahler aus dem Ausland operiert worden, aber das Klinikum lockte mit Geld: O. bekam ein bis zu 25 Prozent höheres Salär, wenn er - bis zur Obergrenze von 60 Organen im Jahr - besonders viele Lebern transplantierte. Ein "falscher Handlungsanreiz", monieren die Gutachter.
Auffällig ist, dass die Zahl der Lebertransplantationen in Göttingen zurückging, wenn sich weitere für den Arzt kaum mehr lohnten. So wurden unter O. zwischen Januar und September der Jahre 2009 und 2010 durchschnittlich jeweils 17 Lebern pro Quartal verpflanzt. Im vierten Quartal 2009 waren es vier, im gleichen Zeitraum 2010 sieben. O. beteuerte allerdings stets, er habe nur im Sinne seiner Patienten gehandelt.
Transplanteure und Kontrolleure: zu sehr miteinander verflochten
Auch wenn Rothmund, Fleig und Stangl die Verantwortung der Göttinger Ärzte betonen: Die Manipulationen seien ihnen auch leicht gemacht worden, schreiben sie. So habe bei der Organ-Vermittlungsstelle Eurotransplant "jegliche Plausibilitätskontrolle" der gemeldeten Patientendaten gefehlt. Und womöglich seien Transplanteure und Kontrolleure in dem System einfach zu sehr miteinander verflochten, monieren die Gutachter. Die Prüfungs- und Überwachungskommission (PÜK) bei der Bundesärztekammer habe zudem "ihre Prüfaufgaben nur ungenügend wahrgenommen". Im Jahr 2011 habe sie bundesweit lediglich vier Fälle untersucht. Erst in der Folge des Göttinger Skandals stellte die PÜK fest, dass es 2010 und 2011 allein bei Lebertransplantationen 292 Unregelmäßigkeiten gegeben hat.
In Göttingen ist der Ausschuss der Ärztekammer laut dem jüngst fertiggestellten Bericht, der der SZ ebenfalls vorliegt, zu einem ähnlichen Urteil gelangt wie die Rothmund-Kommission. Er fand bei 105 untersuchten Fällen 79 Verfehlungen. Der Anteil ist größer, weil die PÜK sämtliche Regelverstöße wertete, während Rothmund und seine Kollegen nur die 34 ihrer Ansicht nach offenkundigen Manipulationen und die 27 nicht oder kontraindizierten Transplantationen listeten.
In Göttingen sind nach Ansicht der Gutachter inzwischen die richtigen Maßnahmen getroffen worden. Das gesamte Transplantationsprogramm sei neu aufgestellt; der neue Leiter habe die Warteliste zusammengestrichen, weil 69 der 132 Patienten gar nicht für eine Transplantation infrage kamen. Für die Zukunft wünschen sich die Gutachter, "eine Kultur einer verantwortungsvollen Mitarbeiterschaft zu fördern". In der Göttinger Transplantationsmedizin herrschte ihrem Bericht zufolge "ein Klima von steiler Hierarchie, Repression und Angst". Zum Teil hätten "gebrochene Menschen als Befehlsempfänger ohne Wahrnehmung der eigenen Verantwortung agiert". Allerdings sei dies an deutschen Universitätskliniken häufig der Fall.