Süddeutsche Zeitung

Therapie-Entscheidungen:Patientenwunsch bleibt Ärzten oft ein Rätsel

Selbst viele gebildete Menschen trauen sich nicht, ihrem Arzt zu widersprechen. Er wird schon wissen, was das Beste für sie ist. Studien zeigen: Er weiß es nicht.

Christina Berndt

Worum geht es eigentlich im Arztberuf? Sollte es das höchste Ziel jedes Mediziners sein, die Krankheit seines Patienten zu heilen? Oder sollte er sich vielmehr darum bemühen, dass es seinem Patienten möglichst gut ergeht? Auch wenn ein erster Impuls so manchen Arzt und so manchen Patienten dazu veranlasst zu glauben, beide Ziele würden doch dasselbe bedeuten: Der Unterschied zwischen Heilerfolg und einer guten Behandlung ist doch größer, als man zunächst anzunehmen geneigt ist.

Viele Ärzte haben die falschen Ziele im Blick, folgern Wissenschaftler vom Dartmouth Center for Health Care Delivery Science in New Hampshire und der walisischen Cardiff University im British Medical Journal (S. e6572, Bd. 345). Ärzte sollten ihre Patienten viel häufiger und intensiver fragen, was sie sich eigentlich von der Behandlung erhoffen, was ihre ganz individuellen Wünsche sind. "Wenn Ärzte allein Therapieentscheidungen fällen, werden die Präferenzen der Patienten oft missinterpretiert oder sogar ignoriert", schreiben Albert Mulley, Chris Trimble und Glyn Elwyn. Diese "Fehldiagnosen der Vorlieben" hätten einen gewaltigen Einfluss auf das Wohlbefinden der Patienten.

"Hör dem Patienten zu: Er erzählt dir die Diagnose", sagte der kanadische Arzt William Osler, einer der Gründerväter der Johns Hopkins University, seinen Studenten schon vor mehr als hundert Jahren. Er wusste, dass die Geschichte des Patienten für eine akkurate Diagnose und die daraus resultierende Therapie oft essenziell ist. Heute gibt es viele zusätzliche Diagnosetechniken, von komplexen biochemischen Assays bis hin zu gigantischen Kernspintomografen. Doch das hat leider dazu geführt, dass Ärzte ihren Patienten nur noch weniger zuhören - und auch weniger auf sie hören. So tun sich oft tiefe Gräben auf zwischen dem, was ein Patient denkt, und dem, was sein Arzt meint, das er denkt.

Besonders deutlich führt das eine Studie der University of North Carolina vor Augen, wo 21 Frauen mit Brustkrebs und ihre 20 Ärzte befragt wurden. 71 Prozent der Mediziner waren der Ansicht, für ihre Patientinnen habe es höchste Priorität, dass ihre Brust erhalten bleibe. In Wirklichkeit aber war das angesichts ihrer Angst vor Nebenwirkungen und dem Wunsch zu leben nur für sieben Prozent der Patientinnen so wichtig, wie die Ärzte glaubten. Zudem waren die Ärzte der Ansicht, es müsse 96 Prozent der Frauen darum gehen, so lange wie möglich zu leben. Das war aber nur bei 59 Prozent der Fall.

Immer wieder zeigen Studien, dass Patienten sich für eine ganz andere Behandlung entschieden hätten, wenn sie besser über Nutzen und Risiken informiert worden wären. So fiel der Anteil von Patienten mit einem gutartigen Prostatakrebs, die sich einer Operation unterzogen, in einer Studie aus Seattle um 40 Prozent, wenn zuvor die Risiken des Eingriffs für das Sexualleben aufgezeigt wurden. Und statt 75 Prozent aller Patienten mit koronarer Herzkrankheit ließen sich in einer Studie der Universität Toronto nur 58 Prozent operieren, sobald ihnen Informationsmaterial überlassen wurde. Das "Shared Decision Making" könnte somit auch die Kosten im Gesundheitswesen senken.

Es geht aber nicht darum, dass Ärzte ihre Patienten nur mal eben fragen. "Wenn man die Präferenzen der Patienten wirklich herausfinden will, dann ist das nicht so simpel", betonen Mulley, Trimble und Elwan.

Zunächst muss der Arzt dem Kranken klarmachen, dass er nicht einfach eine Behandlung anbieten wird. Er könnte sagen: "Wir sollten uns als Team zusammentun - ich als medizinischer Experte und Sie als der Experte für Ihr Leben." Dann sollte der Arzt die Behandlungsoptionen präsentieren und mit Daten unterfüttern. Wenn der Arzt sensibel ist, kann er aus den Reaktionen des Patienten dessen Vorlieben erschließen. Erst danach sollte der Patient eventuell mithilfe des Arztes entscheiden.

Der Kranke ist aber nicht zur Aktivität verdammt. Er kann sich auch vertrauensvoll in die Hände seines Arztes begeben. "Wenn der Patient sagt: ,Machen Sie das mal', dann ist das auch in Ordnung", sagt der Psychologe Martin Härter vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Initiator des Webauftritts "Patient als Partner".

Bislang zeigen erst einige wenige Studien, etwa an Asthma-Patienten, dass Kranke nach so einer gemeinsamen Therapieentscheidung auch besser genesen, sagt Härter. "Aber müssen wir das wirklich beweisen?" Den Patienten in die Behandlung seines eigenen Leids einzubinden, sei schlicht auch eine Frage der Ethik. "Es besteht ein Imperativ dazu."

Und doch hätte Härter gern mehr Studien, die die Heilkraft des Shared Decision Making belegen: "Damit könnten wir wahrscheinlich die vielen immer noch paternalistisch orientierten Kollegen überzeugen", sagt er. Nicht einmal 20 Prozent der Patienten würden derzeit nach den Regeln der Kunst in die Therapieentscheidung einbezogen. Ein kleiner Anteil ist so aufgeklärt und so gut informiert, dass er selbst entscheidet. "Aber zwei Drittel werden immer noch im klassischen Sinne behandelt", so Härter. "Dabei trauen sich oft nicht einmal die gebildeten Menschen aus der Mittelschicht, ihrem Arzt zu widersprechen oder ihn auch nur etwas zu fragen."

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SZ vom 09.11.2012/beu
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