Terroropfer:Die Not nach dem Trauma

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Shufan Huo

Die junge Ärztin Shufan Huo am Ort des Weihnachtsmarktanschlages, dem Breitscheidplatz mit der Gedächtniskirche in Berlin. Wochen zuvor hatte sie hier als Ersthelferin eine schwerverletzte Frau versorgt.

(Foto: Regina Schmeken)

Durch Zufall gerät eine junge Ärztin in die Katastrophe auf dem Berliner Breitscheidplatz. Sie hilft sofort, wird selbst aber mit quälenden Gefühlen allein gelassen. Sie ist nicht die Einzige.

Von Berit Uhlmann, Berlin

Als in der Notaufnahme der Berliner Charité der Katastrophenfall ausgerufen wird, hat Shufan Huo die schwerste Stunde ihres Lebens bereits hinter sich. In verschmutzter Kleidung, das Blut gerade erst von den Händen gewaschen, wartet sie darauf, dass ihre Freunde sie abholen. Dann wird sie das erste Mal erzählen, was von nun an für lange Zeit ihr Thema sein wird: dass sie dem Tod unerwartet nahe kam.

Die zierliche Frau mit dem offenen und wachen Blick hatte nur ein wenig Feststimmung atmen wollen, als sie am Ende eines langen Arbeitstages spontan über den Weihnachtsmarkt auf dem Breitscheidplatz schlendert. Niemand weiß, dass sie in der Nähe der Gedächtniskirche steht, als der Attentäter im Sattelschlepper so dicht an ihr vorbeirast, dass ein Luftzug sie hart im Gesicht trifft.

Einen Moment lang hat Huo den Impuls, zu flüchten, raus aus dieser Szenerie, die sie in den ersten Sekunden als irreal wahrnimmt und die sich kurz darauf in ihrer Monstrosität offenbart. Holztrümmer, Tannenbäume, Glassplitter, dazwischen Menschen. Viele laufen von Angst getrieben weg, manche liegen regungslos am Boden. Da wird der jungen Frau klar, dass der Moment für jenen Satz gekommen ist, der ihr noch immer nicht ganz routiniert über die Lippen geht: "Ich bin Ärztin." Erst im Sommer hatte die in Deutschland geborene und aufgewachsene Frau ihr Medizinstudium abgeschlossen und seither in der Forschung gearbeitet. Sie ist 26 Jahre alt.

Neben ihr bringt ein Mann eine verwundete Frau in die stabile Seitenlage. Huo kniet sich zu den nächstliegenden Verletzten, prüft Atmung und Herzschlag, tröstet, versucht, mit ihren bloßen Händen Winterkleidung zu zerreißen, um Wunden anschauen zu können. Später erst kommen die Sanitäter und reichen ihr medizinische Ausrüstung und Handschuhe. Nur sind diese Handschuhe viel zu groß, Huo streift sie wieder ab.

Die junge Frau hat schmale Hände, die sich in die Ärmel ihres Strickpullis zurückziehen, als sie später ihre bedrückendsten Erinnerungen schildert. Sie berichtet vom verzweifelten Schreien der Angehörigen. Von Menschen, die im Jargon der Rettungskräfte als schwarz kategorisiert sind. Schwarz heißt tot. Und doch beugt sich Huo auf dem Platz vor der Gedächtniskirche ganz nahe zu ihnen. Alle Sinne angespannt, hofft sie, dass es vielleicht doch noch ein Fünkchen Grau gibt. Aber da ist nichts.

Man bittet sie, einer verletzten Frau zwei Zugänge zu legen, über die Flüssigkeit und Medikamente in die Blutbahn gelangen können. Die erste Nadel sitzt auf Anhieb, bei der zweiten trifft sie die Vene nicht. Sie arbeitet unter Zeitdruck, die Patientin muss schnell in die Klinik. Huo bietet an, sie zu begleiten. Im Rettungswagen verlässt sie den Ort des Attentats.

Zu diesem Zeitpunkt arbeitet die Rettungssanitäterin Diana Wieprich noch immer auf dem Breitscheidplatz. Auch sie war nur durch Zufall in diese Katastrophe geraten. In Zivilkleidung, mit Handtasche und Stiefeletten nimmt sie sich jener Aufgabe an, die den ersten Rettungskräften in solchen Situationen zukommt: die Opfer sichten und die Dringlichkeit ihrer Behandlung beurteilen. Das bedeutet, alle, auch die schwersten, die nahezu unerträglichen Verwundungen genau untersuchen zu müssen und immer wieder auch Menschen zu sehen, für die jede Hilfe zu spät kommt. Man weiß, dass die seelischen Belastungen für die allerersten Helfer an einer Unglücksstelle am größten sind.

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