Süddeutsche Zeitung

Telemedizin:Der Damm ist längst gebrochen

Die Entwicklung der Telemedizin lässt sich nicht durch Verbote oder Verweigerung aufhalten. Ärzte, die verhindern wollen, dass Patienten in anonymen Callcentern anrufen, müssen selber Online-Sprechstunden anbieten.

Kommentar von Michaela Schwinn

Es war ein langes Hin und Her, ein leidenschaftliches Tauziehen zwischen Gegnern und Befürwortern. Schließlich entschieden sich die Delegierten des Deutschen Ärztetags in Erfurt am Donnerstag aber doch dafür, das Fernbehandlungsverbot zu lockern. Von nun an dürfen Ärzte Patienten per Telefon oder Video behandeln, auch wenn sie diese vorher noch nie persönlich getroffen haben.

Endlich, will man rufen, endlich sind die Ärzte aufgewacht. Viel zu lange haben sie ignoriert, was in der Welt da draußen, außerhalb ihrer Praxen, passiert. Sie haben ihre Augen davor verschlossen, dass immer mehr ihre Beschwerden bei Google eintippen, oder in Gesundheitsforen. Abends, wenn ihr Hausarzt nicht mehr erreichbar war. Wenn sie monatelang auf einen Termin beim Hautarzt hätten warten müssen. Oder wenn sie keinen halben Vormittag im Wartezimmer sitzen wollten, nur um ein Ziehen im Knie abzuklären.

Aller Unmut und Zweifel muss endlich aus den Arztpraxen verschwinden

Die Patienten wollen Klarheit und das möglichst schnell. Anders als die deutschen Ärzte haben das IT-Konzerne längst erkannt. In den USA etwa haben sich großen Firmen auf Telemedizin spezialisiert. Ihre Portale heißen Doctor On Demand oder MDLive - auch Google Ventures und Microsoft mischen hier mit. Der Markt ist heiß umkämpft und auch in Deutschland sehen die Unternehmen großes Potenzial. Erst kürzlich veröffentlichte der britische Telemedizin-Anbieter DrEd neue Zahlen: 200 000 neue Kunden aus Deutschland alleine im vergangenen Jahr. Deutsche Patienten schicken ausgefüllte Fragebögen dorthin und bekommen dann eine Diagnose, oder sogar ein Rezept.

Wenig verwunderlich ist deshalb, dass diese Unternehmen nach der Entscheidung des Ärztetags besonders laut jubelten. Denn sie öffnet auch ihnen nun Türen, die vorher verschlossen waren. Und es könnte gut sein, dass auch in Deutschland bald große Callcenter eröffnen werden wie in der Schweiz, die 24 Stunden erreichbar sind, die Rezepte ausstellen dürfen und Krankschreibungen.

Seht, genau davor haben wir gewarnt, werden nun die Gegner der Fernbehandlung denken. Aber Zaudern und Zögern ist nicht der richtige Weg. Im Gegenteil: Alle Akteure des deutschen Gesundheitswesens müssen nun aktiv werden: Die Landesärztekammern und Regierungen müssen die Entscheidung des Ärztetags zügig umsetzen. Die Krankenkassen müssen Behandlungen aus der Ferne als Regelleistung aufnehmen. Auch muss endlich eine vernünftige digitale Infrastruktur geschaffen werden, damit Rezepte nicht mehr gedruckt und Patienteninformationen nicht mehr per Fax verschickt werden müssen.

Schließlich - und das ist der allerwichtigste Punkt - muss aller Unmut, aller Zweifel endlich aus den Arztpraxen verschwinden. Wenn nicht sie die Online-Sprechstunden anbieten, werden es andere tun. Die Ärzte haben sich der Sorgfalt und einem medizinischen Standard verpflichtet, der auch für Fernbehandlungen gilt - das müssen sie ihren Patienten klar machen. Nur wenn sie selbst aktiv werden, können die Ärzte verhindern, wovor sie sich am meisten fürchten: Nämlich, dass ihre Patienten lieber im Callcenter anrufen, statt bei ihnen - dem Hausarzt, Frauenarzt oder Orthopäden, den sie seit Jahren kennen und dem sie vertrauen.

Wer glaubt, die Entwicklung der Telemedizin durch Verbote oder Verweigerung aufhalten zu können, der irrt. Das zeigen die Zahlen des britischen Anbieters DrEd und das zeigen die neuen Bedürfnisse der Patienten nach flexibler und schneller Beratung. Oder um es mit den Worten eines Sprechers auf dem Ärztetag zu sagen: Der Damm ist längst gebrochen, nun müssen wir steuern, wo das Wasser hinfließt.

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Quelle:
SZ vom 12.05.2018
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