Tamiflu:Das Fieber der Gutgläubigkeit

Wichtige Daten zum Grippemittel Tamiflu werden seit Jahren zurückgehalten - Regierungen orderten das Medikament trotzdem.

Werner Bartens

Werden bald 200 oder doch eher 300 Millionen Euro für ein Grippe-Medikament fällig, das womöglich nichts nutzt, dessen Haltbarkeitsdatum aber demnächst abläuft? Bestellen die Bundesländer tatsächlich für dreistellige Millionen-Beträge ein Arzneimittel nach, das diverse Nebenwirkungen, aber keine relevante Hauptwirkung hat? Oder soll man besser sagen: über dessen Wirkung weiter spekuliert werden muss, weil die Mehrzahl der Daten unter Verschluss bleibt, obwohl Oseltamivir (bekannt als Tamiflu) seit 1999 zugelassen und auf dem Markt ist?

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Noch immer gilt es als Kavaliersdelikt, Daten nicht zu publizieren, wenn sie nicht passen: Tamiflu-Kapseln.

(Foto: AFP)

Jetzt schlagen Ärzte und Forscher Alarm. Nicht zum ersten Mal, aber diesmal besonders heftig. Sie wollen es sich nicht länger bieten lassen, an der Nase herumgeführt zu werden wie Kinder beim Ostereiersuchen, denen - kaum, dass sie etwas gefunden haben - wieder Dutzende neue und manchmal sogar die alten Eier versteckt werden. "Die Öffentlichkeit nimmt und zahlt Medikamente, die zugelassen sind", beklagen die renommierten Mediziner Peter Doshi, Tom Jefferson und Chris Del Mar in der Fachzeitschrift PLoS Medicine von diesem Mittwoch. "Deshalb sollte die Öffentlichkeit auch Zugang zu allen Informationen über diese Arzneimittel haben."

Hat sie aber nicht, und zwar seit Jahren nicht. Dabei schien anfangs alles so einfach zu sein. Gesundheitsbehörden in Europa, Australien und den USA empfahlen Tamiflu als das einzige Medikament, das bei Vogel-, Schweine- oder Sonstwie-Grippe die Zahl der Krankenhauseinweisungen senken, die Komplikationen vermindern und die Dauer der Beschwerden verringern würde. Die USA orderten daraufhin Tamiflu im Wert von 1,5 Milliarden Dollar. In Deutschland legten die Bundesländer mit Beginn der Vogelgrippe 2005/06 für bis zu ein Drittel der Bevölkerung Vorräte im Schätzwert von 300 Millionen Euro an.

Die Empfehlung der Behörden wie der Aktivismus der Politiker gründeten auf einer Meta-Analyse aus dem Jahr 2003, das heißt der Auswertung von zehn Medikamentenstudien, die Hersteller Roche in den neunziger Jahren unternommen hatte. Doch schon bei der Zulassung 1999 gab es Unstimmigkeiten. Während Roche angab, Tamiflu vermindere Komplikationen, konnte die US-Prüfbehörde FDA diese Behauptung nicht nachvollziehen und ermahnte den Pharma-Multi, seine Aussage zu korrigieren. Auch dass Tamiflu die Ansteckung verhindere, sah die FDA nicht durch Daten belegt.

Die Zweifel der FDA hinderten andere Behörden, darunter die Weltgesundheitsorganisation WHO, die europäische Arzneimittelbehörde und das deutsche Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte nicht daran, Tamiflu zu empfehlen und auf den Nutzen hinzuweisen - auch wenn sich die Erkrankungsdauer dadurch angeblich nur von 5,2 auf 4,2 Tage reduzierte.

Doch nicht einmal dieser kleine Vorteil ließ sich nachvollziehen. Für einen Cochrane-Bericht - diese Analysen gelten als die sorgfältigsten wissenschaftlichen Zusammenfassungen überhaupt - wollten Doshi, Jefferson und Del Mar einen Zugang zu allen Tamiflu-Daten von Roche. Erst kam nichts, dann ein bisschen, dann wurde scheibchenweise geliefert. Doshi und Co. haben 16 Anfragen (und die Antworten von Roche) von Oktober 2009 bis Februar 2011 zusammengefasst, der Briefwechsel liest sich wie ein Drehbuch zu einem Slapstick, denn der Arzneimittelhersteller findet immer neue originelle Gründe, nicht zu liefern: "Gerade mit ähnlicher Analyse beschäftigt", "wir dachten, Sie seien zufrieden mit der letzten Lieferung", "schon mehr als üblich", "haben Zweifel, ob Sie unvoreingenommen vorgehen", "einige Studien laufen noch".

Was nach einer Komödie klingt, hat tragische Elemente, denn hier wird Geld verschleudert für einen behaupteten, aber nie bewiesenen Nutzen. Das unabhängige Arznei-Telegramm urteilte kürzlich: "Für die seit 2002 von der WHO empfohlene Einlagerung von antiviralen Mitteln wie Oseltamivir (Tamiflu) für eine Virusgrippe-Pandemie fehlt die wissenschaftliche Basis." Das unwürdige Stück ist zudem dazu geeignet, das Vertrauen in den freien Austausch von Forschungsdaten zum Schutz der Bevölkerung zu untergraben. Die Hoffnung, dass Politik und Behörden regulierend eingreifen, kann man verlieren. Dabei müssen sich die Länder bald entscheiden, wie sie mit den dürftigen Nutzenbelegen umgehen; die Tabletten sind nicht mehr lange haltbar (siehe Text unten).

Ein schlechtes Licht wirft die Tamiflu-Geschichte auch auf die Zulassung von Medikamenten und die Diskrepanzen in der Beurteilung durch Behörden. Warum gab es nach der Zulassung von Tamiflu 1999 mehr als 100 Studien zu dem Mittel (und dem verwandten Relenza), wo doch mit der Zulassung alle Sicherheitsbedenken ausgeräumt sein und Wirksamkeitsnachweise vorliegen sollten? Warum wurde Tamiflu bis heute nicht einer Nutzenbewertung - etwa durch das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen - unterzogen? Und warum ist in dem seit Januar 2011 gültigen Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes - trotz der Empfehlung etlicher Experten - nicht vorgesehen, dass alle Studien, die begonnen werden, auch registriert werden müssen? Nur so ließe sich verhindern, dass unliebsame Daten einfach in der Schublade verschwinden.

Es ist ein täglicher Skandal", sagt Gerd Antes, der das Deutsche Cochrane-Zentrum leitet. "Leider handelt es sich um die Spitze des Eisbergs. Noch immer gilt es als Kavaliersdelikt, Daten nicht zu publizieren, wenn sie nicht passen." Mal entsprechen Ergebnisse nicht den Erwartungen oder entkräften die Hypothese. Dann ändert sich die Forschungsrichtung, das Projekt versandet. Oder es lässt sich kein Profit daraus schlagen. "Mehr als 50 Prozent aller Studiendaten bleiben unter Verschluss", beklagt Antes. "Diese Zahl kann man gar nicht genug betonen, und das Unterschlagen von Daten betrifft nicht nur die Industrie, sondern auch Unikliniken und Institute."

Für die Bilanz von Roche war die massenhafte Bestellung von Tamiflu ein Segen. Nach Firmenangaben wurde das Mittel "zur Grippe-Behandlung und Prävention bei 90 Millionen Menschen in über 80 Ländern eingesetzt". Der Pharma-Multi weist selbst darauf hin, wer Verantwortung trägt. "Es ist Aufgabe der globalen Gesundheitsbehörden, detaillierte Informationen zu Medikamenten in einer Nutzen-Risiko-Untersuchung zu prüfen", teilte eine Roche-Sprecherin am Dienstag mit. "Roche arbeitet daran, die ausstehenden Daten ebenfalls öffentlich zur Verfügung zu stellen." Darunter wäre auch die größte Studie - mit 1400 Probanden, seit 1997 unpubliziert.

Peter Doshi ist empört. Für ihn sind die Medikamente auf dem Markt zugelassen und kontrolliert von "Behörden, die Daten und Interessen der Industrie schützen" - und nicht die der Bevölkerung.

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