Gesundheitsrisiko:Wie gefährlich sind Tätowierungen?

Unterfranke tätowiert sich Schliersee-Panorama auf die Wade

See-Panorama auf den Waden: Obwohl Tattoos längst zum Mainstream geworden sind, wissen die wenigsten Bescheid, was sie sich genau unter die Haut stechen lassen.

(Foto: Florian Bachmeier/dpa)
  • Die EU beschäftigt sich gerade mit dem Thema Tätowiermittel. Denn obwohl die Farbe in den Körper injiziert wird, gibt es bisher kaum Regularien.
  • Noch gibt es keine Langzeitstudien oder umfassende Untersuchungen, ob die Pigmente der Tätowierungen für den Körper schädlich sind.
  • Für Tattoofarben gilt nur die sogenannte Tätowiermittel-Verordnung, sie enthält eine Negativliste - mit 38 verbotenen Stoffen ist diese aber überschaubar.

Von Michaela Schwinn, Regensburg

Wie oft hatte sie sich die Szene vorgestellt: Sie auf der Bühne, mit dem Mikro in der Hand, der Ärmel rutscht ein klein wenig nach oben, und dann blitzt sie hervor, die rote Feder, die kleine Musiknoten auf ihr Handgelenk zeichnet. An das dachte Karina Zollner, die eigentlich anders heißt, als sie sich das Tattoo stechen ließ. Lange hatte sie überlegt, sie liebt Musik, vor allem Jazz, das sollte jeder sehen.

Jetzt, ein Jahr später, würde sie am liebsten alles rückgängig machen. Da, wo vorher sanfte Striche entlangliefen, sind jetzt Knubbel. Einer neben dem anderen, kleine Kugeln wie bei einer Himbeere. Das Tattoo hat eine allergische Reaktion ausgelöst, bis hoch zur Elle glüht die Haut, sie juckt und brennt. Es sieht aus, als schriebe die Feder nun auf rotem Papier.

Vielleicht waren es Bilder wie diese, von Allergien und nässenden Wunden, die neuerdings wieder Forderungen nach mehr Regulierungen bei Tattoofarben laut werden lassen. Erst vor ein paar Wochen rief Gitta Connemann, die Vizechefin der Unions-Bundestagsfraktion, Tätowierer, Wissenschaftler und Politiker zu einem Tattoo-Gipfel. Und auch die EU beschäftigt sich gerade mit dem Thema Tätowiermittel. Denn obwohl die Farbe in den Körper injiziert wird, gibt es bisher kaum Regularien. Jede Creme oder Lotion, die letztlich nur auf und nicht in der Haut landet, muss strengere Auflagen erfüllen. Warum eigentlich? Und was machen die Farben in unserem Körper?

Sogar Kosmetika, die nur auf und nicht in der Haut landen, werden strenger kontrolliert

Wenn einer diese Fragen beantworten könnte, dann wohl Wolfgang Bäumler. Er ist Medizinphysiker in der Abteilung Dermatologie am Uniklinikum Regensburg und forscht seit über 20 Jahren zum Thema Tattoos - europaweit war er einer der Ersten, die der Sache wissenschaftlich auf den Grund gehen wollten. Aber auch er sitzt in seinem Büro und zieht die Schultern hoch: "Ich weiß es doch auch nicht."

Wer den resignierten Unterton in seiner Stimme verstehen will, muss ein paar Jahre zurückgehen, zu einem Kongress über die Laserentfernung von Tattoos 1998. Dort fragte jemand Bäumler: Auf was schießt ihr da eigentlich mit den Lasern? Er wusste es nicht, keiner wusste es. Also ging Bäumler in Tattoostudios, er holte sich Farben, ließ sie analysieren. Er ging in die Gerichtsmedizin und untersuchte die farbigen Lymphknoten der Leichen; bei roten Tattoos waren sie rot gefärbt, bei grünen grün. Er saß in EU-Arbeitsgruppen und organisierte Kongresse. Unzählige Journalisten meldeten sich über die Jahre bei ihm, immer wieder mit derselben Frage: Sind Tattoos schädlich? Seine Antwort war immer dieselbe: "Keine Ahnung."

Langzeitstudien gibt es nicht

Tatsächlich gibt es bisher keine Langzeitstudien oder umfassende Untersuchungen. Und das, obwohl jeder fünfte Deutsche tätowiert ist, bei Frauen zwischen 25 und 34 Jahren sogar jede zweite. Aus Subkultur ist ein Massenphänomen geworden. So viele tragen die Farbe unter der Haut, und doch weiß niemand so genau, was damit im Körper passiert.

Dass durch das Stechen Wunden entstehen, die sich entzünden können, ist wohl den meisten bekannt. Nicht aber, dass die Pigmente, die für die Farbe sorgen, nicht dort bleiben, wo die Nadeln sie in die Haut schießen. Die feinen Partikel können im Körper wandern und sich in den Lymphknoten oder der Leber sammeln. Was das für den Organismus bedeutet? "Das könnte man wohl nur mit Tierversuchen herausfinden", sagt Wolfgang Bäumler. Einen entsprechenden Antrag hat er auch bei der Tierschutzbehörde gestellt. "Aber er wurde abgelehnt, aus ethischen Gründen."

Dazu kommt, dass man oft nicht weiß, was in den kleinen Fläschchen steckt: "Das können bis zu hundert verschiedene Substanzen sein", sagt Bäumler. Pigmente, Konservierungsstoffe, Lösungsmittel, manchmal auch Metalle wie Arsen oder Nickel. Teilweise auch Stoffe, die als krebserregend gelten - schon vor vier Jahren wies die Stiftung Warentest darauf hin, dass zwei von zehn getesteten Farben solche Substanzen enthielten. Diese wilde Mischung aus Inhaltsstoffen liegt daran, dass Pigmente meist nicht zu hundert Prozent rein sind. Sie werden nicht eigens für Tätowiermittel hergestellt, sondern in großen Mengen für die Industrie produziert. So kann es sein, dass das gleiche rote Pigment sowohl im Autolack landet als auch in einer Rose auf der menschlichen Haut.

Geht man in Studios und spricht mit Tätowierern, dann geben viele offen zu: Was da genau drin ist, weiß ich auch nicht. Selbst wenn auf den Etiketten Inhaltsstoffe stehen - was nicht immer der Fall ist - können die meisten nichts damit anfangen. Kaum einer ist Chemiker, auch gibt es keine Ausbildung - ein Gewerbeschein reicht, um ein Studio zu eröffnen. Viele verlassen sich auf die Hersteller. "Das wird da sicher gut getestet", sagt ein Münchner Tätowierer. Und die Kunden? "Mich hat noch nie jemand nach Inhaltsstoffen gefragt."

Auch Karina Zollner ahnte nichts von Allergien oder unreinen Farben. Worauf ihr Körper allergisch reagiert, ist nur schwer zu sagen. Ihr Hautarzt konnte ihr nicht helfen, also schickte er sie nach Regensburg. Dort bekam sie Cortison und wurde auch gleich die erste Testperson in einer Studie, die Wolfgang Bäumler leitet. Damit will er herausfinden, welche Stoffe für Allergien und andere gesundheitliche Folgen verantwortlich sein könnten. Dafür wurden Zollner und anderen Patienten Gewebe und Blut entnommen. Auch ihr ist wichtig, dass dazu geforscht wird. "Kein anderer soll das durchmachen, was ich erlebt habe", sagt sie. Täglich muss sich die Erzieherin Plastikhandschuhe überstreifen, um die Haut durch Seife oder Spülmittel nicht noch mehr zu reizen. Manchmal juckt ihr Arm so stark, dass sie fast durchdreht - und keiner kann ihr sagen, ob das jemals wieder aufhören wird.

Für Tattoofarben gilt nur die sogenannte Tätowiermittel-Verordnung

Fast alles ist in Deutschland reguliert: Jede Creme in der Drogerie wurde vorher getestet, auf Müslipackungen ist genau aufgeschlüsselt, was drin ist. Für Tattoofarben gilt nur die sogenannte Tätowiermittel-Verordnung, sie enthält eine Negativliste - mit 38 verbotenen Stoffen ist diese aber überschaubar. Alles andere darf in die Fläschchen. Und selbst daran halten sich nicht alle Produzenten, in Stichproben fallen immer wieder verbotene Stoffe auf. Zwar sind die Hersteller für die Sicherheit der Stoffe verantwortlich, aber die sind nicht verpflichtet, für ihre Produkte Sicherheitsberichte zu erstellen.

Die deutsche Politik hat das Thema vernachlässigt

"Es existiert keinerlei Zulassungsverfahren für Tätowiermittel", kritisiert die CDU-Bundestagsabgeordnete Gitta Connemann. Auch die bisherigen Kontrollen der Farben seien nicht ausreichend: Es gebe personelle Notstände bei den zuständigen Ämtern für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit und enormes Unwissen. "Viele wissen gar nicht, was sie prüfen sollen und fragen die Tätowierer, ob sie ihnen nicht helfen können." Auch seien noch andere Fragen offen: "Soll Tätowierer ein Ausbildungsberuf werden? Warum gibt es keine einheitlichen Hygienevorschriften? Und: Wie viele Tattoostudios gibt es überhaupt - nicht einmal dazu gibt es Zahlen."

Sie selbst gibt zu, dass die Politik das Thema lange vernachlässigt hat: "Die Tattooverbände sind deshalb selbst tätig geworden, sie wollen Veränderungen. Vor der Branche ziehe ich meinen Hut." Im November traf sich Connemann mit Tätowierern, Lieferanten und Vertretern der Bundesministerien und diskutierte mit ihnen über Inhaltsstoffe, Hygiene und den Berufszugang. In vielem war man sich einig, auch bei den Farben: Es bedarf schärferer Vorschriften - am besten EU-weit.

Tätowierer, Politiker und Wissenschaftler sind sich einig: Es bedarf schärferer Regeln

Das könnte tatsächlich bald Realität werden. Denn damit beschäftigt sich die Europäische Kommission, genauer die ECHA, die Europäische Chemikalienagentur. Sie arbeitet an einem Papier, das einheitliche Standards bei Tätowiermitteln schaffen soll - quasi eine Negativliste für ganz Europa. Denn bisher entscheidet jedes Land selbst, welche Stoffe Tätowierer ihren Kunden injizieren dürfen. Es wäre die erste europaweite Regelung auf diesem Gebiet. Eine gute Sache also?

Michael Dirks ist sich da nicht ganz sicher. Er ist Chemieingenieur, und auch er wollte in den vergangenen Jahren mehr Sicherheit schaffen. Sein Ziel war es, gute, verträgliche Farben herzustellen. Dafür mischte er selbst Stoffe zusammen und tätowierte sie unter die eigene Haut. Mehr als 200 bunte Quadrate sind auf seinem Oberschenkel. Aus finanziellen Gründen musste er sein Vorhaben aufgeben und hält nun Vorträge über Tätowiermittel vor Österreichs Wirtschaftskammern.

Die EU-Verordnung findet er generell begrüßenswert: "Es ist ein sehr junger Industriezweig, dass es ein Regelwerk geben muss, ist ganz klar." Allerdings befürchtet er, dass das Vorhaben der ECHA genau das Gegenteil von dem bewirken könnte, was es eigentlich sollte. "Die Grenzwerte, die dort ausgerechnet wurden, sind völlig unrealistisch, das kann bisher kein Hersteller liefern", sagt er. "Dadurch könnten viele Tattoofarben komplett verboten werden." Auch der Medizinphysiker Bäumler schließt nicht aus, dass die ECHA "über das Ziel hinausschießen könnte". Zu hohe Grenzwerte könnten sich zugunsten von Hinterhof-Tätowierern auswirken: "Studios kann man kontrollieren", sagt er, "aber nicht, was auf der Wohnzimmercouch passiert."

Ohnehin würde auch diese Regulierung laut Bäumler nicht den Kern des Problems treffen. Denn dabei gehe es nur um Chemikalien, aber nicht um mögliche Langzeitfolgen: "Bisher haben wir nur eine unkoordinierte Langzeitstudie, die jeder Tätowierte an sich selbst durchführt - mit ungewissem Ausgang." Einmal hat Bäumler versucht, eine Frage in einer der größten deutschen Gesundheitsstudien, der "Nationalen Kohorte", unterzubringen: Sind Sie tätowiert? Doch sie wurde nicht aufgenommen. "Das hätte uns vielleicht mal weitergebracht." Kürzlich bekam Bäumler eine E-Mail von einer schwangeren Amerikanerin: Ob es ihrem Kind schadet, wenn sie sich tätowieren lässt? Mal wieder musste er passen. "Mir wäre es auch lieber, wenn Tattoos nicht langfristig schädlich wirken", sagt er, "aber ich will eins: Menschen wie ihr endlich eine klare Antwort geben."

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