Demographischer Wandel:Helfende Hände dringend gesucht

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Die Zahl der Pflegebedürftigen wird sich in den kommenden Jahrzehnten fast verdoppeln - doch bereits heute fehlt es an gut ausgebildeten Pflegern. Was kommt da auf uns zu?

Von Kim Björn Becker

Vielleicht ist die Lösung ja im fernen Japan zu finden. Das Land hat eine ähnliche Bevölkerungsstruktur wie die Bundesrepublik, auf viele alte Menschen kommen dort ebenfalls vergleichsweise wenige junge. Auch in Japan ist Pflegepersonal schwer zu finden, daher erproben Wissenschaftler seit einiger Zeit den Einsatz von Robotern in Kliniken und Pflegeheimen. Die menschenähnlichen Gebilde sollen Pflegern dabei helfen, Alte und Kranke zum Beispiel aus dem Bett in den Rollstuhl zu tragen - eine Tätigkeit, die das Personal im Pflegeheim an jedem Tag dutzendfach ausführen muss. Auf diese Weise, so lautet die Vorstellung von Wissenschaft und Industrie, sollen mit weniger Pflegern mehr alte Menschen versorgt werden. Was in Japan funktioniert, könnte auch in deutschen Pflegeeinrichtungen umgesetzt werden. Ist moderne Technik die Antwort auf den in Deutschland vielbefürchteten Pflegenotstand?

Nein, sagt Ruth Nowak, Amtschefin im Bayerischen Staatsministerium für Gesundheit und Pflege, im öffentlichen Podium des SZ-Gesundheitsforums und der Katholischen Akademie in Bayern zum Thema "Wer soll uns pflegen?". "Das kann die Lösung nicht sein." Stattdessen müsse es gelingen, den Beruf des Pflegers attraktiver zu gestalten, fordert sie. Nicht Roboter seien die Antwort auf den Personalmangel in der Branche, sondern "ein dauerhaft zufriedenstellendes Berufsbild".

Deutschland steht in Sachen Pflege in den kommenden Jahren vor großen Herausforderungen. Etwa 2,6 Millionen Menschen sind derzeit pflegebedürftig und erhalten Leistungen aus der gesetzlichen Pflegeversicherung. Bis zum Jahr 2060 wird sich die Zahl fast verdoppeln: Nach einer Prognose der Krankenkasse Barmer werden dann etwa 4,5 Millionen Menschen davon abhängig sein, dass andere ihnen beim Waschen, Anziehen und Essen helfen. Das sind etwa 220 000 Personen mehr als bislang angenommen. Zugleich sind bereits heute Tausende Pfleger-Stellen im Land nicht besetzt.

Im bayerischen Pflegeministerium ruhen viele Hoffnungen auf einem Gesetz, das Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) demnächst auf den Weg bringen will. Bislang gibt es drei unterschiedliche Ausbildungen für Pflegeberufe, diese sollen mit der neuen Regelung vereinheitlich werden. Statt sich also wie bisher zum Krankenpfleger, Kinderkrankenpfleger oder Altenpfleger ausbilden zu lassen, soll es in Zukunft eine gemeinsame Grundausbildung samt Spezialisierung geben. Auf diese Weise soll es den Absolventen möglich werden, schneller zwischen den Bereichen zu wechseln - je nachdem, wo gerade Bedarf besteht.

Der Branche stehe mit der sogenannten Generalistik der Pflegeberufe eine "gewaltige Systemveränderung" bevor, sagt Nowak. Allerdings fürchten insbesondere Vertreter von Pflegeeinrichtungen, dass die Reform es Heimen und ambulanten Hilfsdiensten noch schwerer machen könnte, gutes Personal zu finden - denn in der Krankenpflege werden bislang deutlich bessere Gehälter bezahlt als in der Altenpflege. Laut einer Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung verdienen Fachkräfte in der Krankenpflege in Westdeutschland durchschnittlich 3139 Euro brutto pro Monat, in der Altenpflege sind es 2568 Euro (siehe Grafik).

Darüber hinaus bieten mehrere Hochschulen bereits Studiengänge an, die Pfleger von morgen auch akademisch ausbilden - nicht nur für die Pflege am Bett des Patienten, sondern auch für Führungsaufgaben in Kliniken und Heimen. "Das Studium bringt der Branche einen Kompetenzzuwachs", sagt Bernd Reuschenbach, Professor für Gerontologische Pflege an der Katholischen Stiftungsfachhochschule in München. Erfahrungen aus anderen Berufen zeigten, dass eine Akademikerquote von zehn bis 20 Prozent ideal sei. Allerdings müsse eine zunehmende Akademisierung der Pflege sich auch in den Tätigkeitsprofilen der Absolventen niederschlagen - und schließlich auch in der Bezahlung. Es könne nicht sein, so Reuschenbach, "dass die zusätzliche Expertise in den Einrichtungen nicht nachgefragt wird".

Für Basina Kloos, frühere Generaloberin der Franziskanerinnen im rheinland-pfälzischen Waldbreitbach und heute Geschäftsführerin der dort ansässigen Marienhaus Gesundheits- und Sozialholding, wird ein Pflege-Studium "nicht alle Probleme lösen, aber viele". Es sei an der Zeit, den Pflegern "die Bedeutung in der Gesellschaft zu geben, die sie verdienen", fordert sie. Da sei eine Aufwertung der Ausbildung ein wichtiger Schritt.

Gleiches gelte für die viel diskutierte Einführung von eigenen Pflege-Kammern, die analog zu den Landesärztekammern als Interessenvertretungen dienen sollen. In Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein gibt es bereits eigene Kammern, in Bayern ist ein Zusammenschluss geplant, der allerdings ohne die für eine Kammer erforderliche Pflichtmitgliedschaft aller Pfleger auskommt. Kritiker der Pflegekammern stellten in der Vergangenheit mehrfach infrage, ob deren Einrichtung überhaupt verfassungskonform sei. "Eine solche Kritik würde sich bei den Ärzten niemand trauen", sagt Kloos. Auch in anderen Berufen, etwa bei Rechtsanwälten oder Architekten, sind Kammern mit Pflichtmitgliedschaft teils seit Jahrzehnten üblich. Würden in mehr Bundesländern Pflegekammern eingeführt, hätte dies eine Stärkung des Personals zur Folge. "In vielen Fragen, welche die Versorgung von Patienten betreffen, werden heute doch nur die Ärzte gehört, nicht aber die Pfleger."

Dass der alleinige Blick auf die Pflege nicht ausreicht, Alte und Kranke möglichst gut zu versorgen, macht die Bielefelder Gesundheitswissenschaftlerin Kerstin Haemel deutlich. "Wir können es uns nicht leisten, für jeden Beruf isoliert zu denken", sagt die Professorin. Einem 90-Jährigen, der pflegebedürftig wird, sei es "nicht zuzumuten", sich im Dickicht der vielfältigen Hilfsangebote selbst zu orientieren.

Eine Lösung, so Haemel, könnten interdisziplinäre Versorgungszentren sein, wie es sie unter anderem in Skandinavien gibt. Dort werde die "Idee der umfassenden Versorgung" bereits umgesetzt: Ärzte, Pfleger und Hilfsdienste bieten dort im selben Gebäude Sprechstunden an. Die Termine könnten koordiniert werden, das erspare den Senioren und ihren Angehörigen viel Zeit. In der Palliativmedizin und der Geriatrie gebe es entsprechende Modelle schon lange, nur in der Altenpflege seien sie noch nicht weit genug etabliert.

In Deutschland sei derzeit aber noch die Familie "der größte Pflegedienst des Landes", gibt Birgit Schießl, Gesundheits- und Krankenpflegerin sowie Praxisreferentin der Hochschule München, zu bedenken. Nach Angaben des Statistischen Bundesamts wurden zuletzt fast drei Viertel aller Pflegebedürftigen im Land zu Hause versorgt, zumeist von Angehörigen. Da jedoch Familien immer seltener zusammenhalten, sei es wichtig, den Beruf des Pflegers in Zukunft "attraktiver zu gestalten", so Schießl. Vor allem sei der in vielen Einrichtungen übliche Dreischichtbetrieb für viele Arbeitnehmer nicht mit einer eigenen Familie vereinbar.

© SZ vom 20.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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