Muttermilch gilt als idealer Cocktail für Neugeborene. Müttern wird darum empfohlen, mindestens vier Monate ausschließlich zu stillen und während der Einführung der Beikost weiter Muttermilch zu füttern. Zahlreiche Studien konnten nachweisen, dass gestillte Kinder weniger Infektionen durchmachen und seltener übergewichtig sind, auch in der kognitiven Entwicklung und in der Schule schnitten sie oft besser ab als die sogenannten Flaschenkinder. Für diesen mentalen Vorsprung werden langkettige, ungesättigte Fettsäuren (LC-PUFA) verantwortlich gemacht. Diese kommen reichlich in der Muttermilch vor, in Kuhmilch hingegen kaum.
Dass Stillen das Risiko für Durchfall, Mittelohrentzündung und späteres Übergewicht senkt, ist weitgehend unbestritten. Das hat auch eine Expertengruppe im Auftrag des Verbraucherministeriums im Jahr 2010 in der Monatsschrift Kinderheilkunde festgehalten.
Heftig debattiert wird hingegen über den Einfluss der Muttermilch auf das kindliche Gehirn. Kritiker wie der Pädiater Gideon Koren von der Universität von Toronto bezweifeln, dass die Ingredienzien der Muttermilch schlau machen. Er hat im vergangenen Jahr eine Übersichtsstudie zu diesem Thema verfasst und glaubt vielmehr, dass andere Faktoren aus der Lebenswelt von gestillten Kindern den Effekt verursacht haben.
Einfluss auf so komplexe Dinge wie Intelligenz wahrscheinlich nur klein
Der Entschluss zu stillen und auch die Stilldauer ist in Industrieländern nämlich sehr stark mit dem sozio-ökonomischen Status der Eltern verknüpft: Stillende Mütter haben meist eine bessere Bildung genossen, einen höheren IQ und dadurch viele soziale Vorteile wie ein höheres Familieneinkommen. "Diese Faktoren beeinflussen aber auch die Gesundheit der Kinder", sagt Cynthia Colen, Soziologin an der Ohio State University. Und diese herauszurechnen, ist praktisch nicht möglich.
Genährt wird die Skepsis gegenüber dem Fördereffekt der Muttermilch auch durch die Tatsache, dass Studien in weniger entwickelten Ländern keinen Unterschied in Sachen Kognition bei Still- und Flaschenkindern finden konnten. "Das müsste man aber, wenn ein tatsächlicher Zusammenhang bestünde", sagt Gideon Koren.
Zudem haben Studien mit Schwangeren, die LC-PUFA-Fette als Tablette einnahmen, keinen Einfluss auf die Gehirnentwicklung des Kindes festgestellt. Seit einigen Jahren setzen auch viele Hersteller LC-PUFAs der Muttermilchersatznahrung zu. Bislang konnte aber nicht bewiesen werden, dass solche Tütenmilch den Kindern kognitiv nutzt.
Muttermilch allein hat wohl keinen Einfluss auf die Intelligenz
Nun geben zwei aktuelle Forschungsarbeiten den Kritikern recht. Sie legen nahe, dass Muttermilch allein wahrscheinlich keinen Einfluss auf Gehirnentwicklung und Intelligenz hat. Das schließt etwa die US-Forscherin Colen aus Daten einer prospektiven Langzeitstudie. Darunter fanden sich 1773 Geschwisterkinder, die unterschiedlich gefüttert wurden. Mindestens ein Kind wurde nach der Geburt gestillt, andere bekamen Baby-Ersatznahrung; stark verzerrende Faktoren in der Lebensumwelt der Familien gibt es nicht.
Cynthia Colen analysierte die Entwicklung der Kinder im Alter zwischen vier und 14 Jahren. Sie beobachtete Body-Mass-Index und Asthma genauso wie Leseverständnis, Mathe-Fähigkeiten und Schul-leistungen. Das Ergebnis: Die gestillten Kinder zeigten keinen Vorsprung bei der Gehirnentwicklung. Es gab kaum Unterschiede in der gesundheitlichen Verfassung der Kinder, auch dann nicht, wenn die Mütter lange stillten. "Der derzeit angenommene Einfluss des Stillens auf das Wohlbefinden und die Gesundheit des Kindes könnte überschätzt sein", sagt Colen. Zwar seien gestillte Kinder eher schlank, aber auch das dürfte den sozialen Unterschieden geschuldet sein, mutmaßt sie.
Gestillte Kinder genossen einen feinfühligeren Umgang
In dieser Schlussfolgerung widerspricht zwar ihr Kollege Ben Gibbs, Soziologe an der britischen Brigham University. Aber bei den kognitiven Effekten zieht er die gleichen Schlüsse wie die Amerikanerin. Gibbs hat in einer Studie mit 7500 Müttern und ihren Kindern die verschiedenen Ernährungsweisen und erstmals detaillierte Daten über den Umgang der Mutter mit dem Kind im ersten Lebensjahr gesammelt und mit der kognitiven Entwicklung nach vier Jahren verglichen.
Dabei ergab sich zwar wiederum ein Vorsprung für gestillte Kinder, doch Gibbs konnte zeigen, dass diese einen wesentlich feinfühligeren Umgang genossen hatten. "Kinder, auf deren emotionale Bedürfnisse eingegangen wurde und die zudem ab dem 9. Monat täglich ein Buch vorgelesen bekamen, hatten mit vier Jahren einen Vorteil von immerhin zwei bis drei Monaten gegenüber Altersgenossen", resümiert Gibbs. Schon frühere Studien hatten belegt, dass regelmäßige Lesestunden ab dem ersten Lebensjahr den IQ von Schulkindern um sechs Punkte erhöhen können.
Natürlich raten Experten weiterhin zur Muttermilch. "Stillen hat ja auch noch andere, bewiesene Vorteile", so Gibbs. Und auch Klaus Vetter, Sprecher der Nationalen Stillkommission, bezeichnet das Stillen als "gut und einfach". "Man macht damit keinen Fehler", sagt der Berliner Gynäkologe. Stillen, räumt er ein, sei aber wohl nur ein kleiner Faktor, wenn es um so komplexe Dinge wie Intelligenz und Bildung gehe. Das habe der Kinderarzt Remo Largo in den nun mehr als 50 Jahre dauernden Züricher Longitudinalstudien belegt. "Frauen, die nicht stillen können oder wollen, sollte man also nicht verurteilen", so Vetter.