Sterben:Wenn ein Mensch plötzlich tot umfällt

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Wie gut Hinterbliebene den Tod bewältigen, hängt auch von der Art des Sterbens ab. (Foto: N/A)

Auch in unserer hochtechnisierten Welt sterben Menschen von einer Minute auf die andere. Ein Notarzt, ein Rechtsmediziner und ein Seelsorger über die Grenzerfahrung für Hinterbliebene und Helfer.

Von Berit Uhlmann

Es war spät geworden an diesem Abend, die S-Bahn sollte in wenigen Minuten abfahren, und die alte Dame drängte ihren Mann zur Eile. Sie erreichen ihre Bahn, sie atmen durch, alles ist gut. Dann geht der Mann zu Boden, ein plötzlicher Herztod. Fassungslos sieht die Frau auf den Menschen, mit dem sie eben noch ein Glas Wein zum Tagesausklang trinken wollte. In ihrem Kopf nimmt ein fürchterlicher Gedanke Form an: "Ich habe meinen Mann umgebracht." Der Tod ist immer verstörend, doch wenn er jäh in das pralle Leben einbricht, ist er schier unfassbar. Eine Grenzerfahrung für Angehörige und alle, die zu helfen versuchen.

Andreas Müller-Cyran hat versucht, dieser Dame beizustehen. Er ist Seelsorger und erlebt immer wieder, wie sehr irrationale Schuldgefühle die Hinterbliebenen quälen können. Sie glauben, dass alles ganz anders gekommen wäre, hätten sie nur nicht gefordert, kritisiert, Ungeduld gezeigt. Sie denken, sie hätten den geliebten Menschen retten können, wenn sie nur beherzter Erste Hilfe geleistet hätten. Man liest und hört doch immer wieder, wie Menschen ihre Lieben vor dem Tod bewahrten. Ein Abend vor dem Fernseher hinterlässt den Eindruck, dass Retten an der Tagesordnung ist.

In der Realität können selbst professionelle Helfer nicht jeden plötzlichen Tod verhindern. Etwa 15 Prozent der Menschen, vielleicht sogar mehr, sterben unerwartet, wie die Experten auf einem Gesundheitsforum der Süddeutschen Zeitung und der Katholischen Akademie Bayern berichten.

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Herzinfarkte, Schlaganfälle, rasant verlaufende Infektionen, Unfälle oder Gewalttaten sind die häufigsten Ursachen dafür, dass der Kreislauf plötzlich zum Erliegen kommt. Oft bleiben nur Minuten, in denen Notfallmediziner den Tod noch abwenden können. In der Regel kennen sie die Krankheiten, die Geschichte und Wertvorstellungen dieser Patienten nicht - und müssen doch unter Hochdruck Entscheidungen treffen, die immer komplexer werden. Denn die moderne Notfallmedizin hat heute Möglichkeiten, die früher undenkbar waren, sagt der Münchner Notarzt Stephan Prückner.

Die Herzdruck-Massage, die jeder Laie im Erste-Hilfe-Kurs einübt, kann heute von tragbaren Maschinen ausgeführt werden. Um den Oberkörper des Patienten geschnallt, komprimiert das Gerät die Brust im gleichmäßigem Rhythmus. Es arbeitet noch in Situationen, in denen der Ersthelfer längst passen müsste: weil der Rettungshubschrauber zu stark schwankt oder weil so viel Zeit vergangen ist, dass die Arme des menschlichen Helfers längst erlahmt wären. Stephan Prückner hat einen Herzinfarkt-Patienten betreut, der drei Stunden lang eine solche Herzdruckmassage erhielt. Der Mann konnte gerettet werden.

Erste Notfallmediziner setzen mittlerweile auch portable Herz-Lungen-Maschinen ein. Nur wenig größer als ein Schuhkarton, können die Geräte das Pumpen des Herzens ebenso wie die Lungenfunktion ersetzen. In Großbritannien öffnen Ärzte bisweilen noch am Einsatzort den Brustkorb des Patienten, um Blutungen zu stillen oder das Herz mit ihren Händen zum Schlagen anzuregen.

"Die Grenzen des Möglichen werden immer weiter hinausgeschoben", sagt der Notarzt Prückner. Damit können Menschenleben gerettet werden; etwa 30 Prozent aller Patienten mit Kreislaufstillstand werden heute in Deutschland erfolgreich wiederbelebt. Doch bisweilen verlängern die spektakulären Aktionen das Leben lediglich bis zu jenem Zeitpunkt, da der Patient in der Klinik eintrifft.

"Wir schieben den Tod in Kliniken und Heime ab", sagt der Münchner Rechtsmediziner Oliver Peschel. Wir wollen die allerletzten, manchmal qualvollen Atemzüge nicht miterleben. Leichen sollen schnellstmöglich aus dem Blickfeld verschwinden, der Sarg wird fest verschlossen. In dieser Atmosphäre des Wegsehens schreibt der Arzt noch rasch einen Totenschein aus. "Werden die dort aufgeführten Diagnosen mit Obduktionsergebnissen verglichen, zeigt sich, dass etwa 50 Prozent aller Todesursachen falsch sind", mahnt der Mediziner.

Nun kann man die Ermittlung der Ursache in vielen Fällen für irrelevant halten, für eine Zumutung gar, die die trauernden Angehörigen zusätzlich belastet. Was interessiert sie das medizinische Detail, wo doch ihr Verlust überwältigend ist? Oliver Peschel hält den Fall eines jungen Mannes dagegen, der beim Joggen tot umfiel. Eine Uhr hatte die sportliche Leistung aufgezeichnet: Lediglich 5000 Schritte hatte der Mann zurückgelegt; sein Herz aber hatte dabei 218 Mal pro Minute geschlagen. Der ungewöhnlich hohe Wert ließ Ärzte und Ermittler aufmerken. Eine Obduktion wurde angeordnet und ergab schließlich einen schweren erblichen Herzfehler als Todesursache. Darüber informiert, erinnerte sich ein Polizist an zwei Brüder des Verstorbenen. Sie hatten von Herzrhythmus-Störungen berichtet. Auch sie waren wahrscheinlich in Gefahr - und konnten nun gewarnt werden.

"Die Aufklärung des Todes wirkt ins Leben zurück", sagt der Rechtsmediziner. Dies gilt umso mehr, wenn es um Gewalttaten geht. In Norddeutschland wird derzeit gegen einen Krankenpfleger ermittelt, der Dutzende, womöglich sogar 200 Patienten umgebracht haben soll. Jahrelang tötete er ungestört, weil niemand in seiner Umgebung hinsah oder diesen grauenvollen Exzess überhaupt für möglich hielt. Niemand kann sagen, wie oft hinter Todesfällen in Kliniken, Heimen oder Kinderzimmern ein Verbrechen steht. Wie viele Fälle hätten verhindert werden können, wenn man nur genauer hingeschaut hätte. "Wir müssen dem Tod gegenüber wieder aufmerksamer werden", mahnt Peschel.

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Doch den Tod vor Augen zu haben, ist schwer, erlebt der Notfall-Seelsorger Andreas Müller-Cyran immer wieder. Die meisten Menschen reagieren hilflos, wenn ein Angehöriger jäh in Lebensgefahr schwebt. Die vor vielen Jahren einmal eingeübten Rettungsmaßnahmen wollen ihnen nicht mehr einfallen. Der Notruf, selbst die eigene Telefonnummer sind plötzlich aus dem Kopf verschwunden. Denken, Fühlen, Wahrnehmen - alles gerät vorübergehend aus der Bahn. Die Angehörigen hören sich selbst wie einen Fremden reden. "Sie haben das Gefühl, neben sich zu stehen oder im falschen Film zu sein", sagt der Seelsorger. Psychologen sprechen von dissoziativen Prozessen. Hinzu kommen Schuldgefühle, die sich manchmal schon aus der Tatsache speisen, selbst überlebt zu haben.

Das sind normale Reaktionen auf eine außergewöhnliche Erfahrung", sagt Müller-Cyran. Nur glauben die meisten Menschen, dass allein sie sich so fühlen. Und auch medizinisches Personal erkennt nicht immer, wie es um die Angehörigen steht. Das tiefe Begreifen, die Trauer sind ja in den ersten Minuten noch gar nicht über die Hinterbliebenen hereingebrochen. Die Menschen können äußerlich ruhig und handlungsfähig wirken. Es kann leicht übersehen werden, wenn sie Hilfe brauchen.

Wird die Hilfsbedürftigkeit erkannt, können Seelsorger wie Müller-Cyran ersten Beistand leisten. Sie setzen sich zu den Angehörigen, auch wenn es zunächst gar nichts zu sagen gibt, sondern nur abzuwarten, ob die erschütterten Menschen sprechen wollen. Es kann etliche Minuten dauern, bis die Hinterbliebenen Worte finden. Zögernd noch und oft unzusammenhängend versuchen sie erstmals zu formulieren, was künftig ein wichtiger Bestandteil ihrer Lebensgeschichte sein wird: der Verlust des geliebten Menschen.

Zuhören kann in diesen ersten Minuten und Stunden ebenso helfen wie ein Abschiednehmen. Die Seelsorger versuchen zu ermöglichen, dass die Angehörigen noch einmal Zeit mit dem Verstorbenen verbringen. Das kann die Bewältigung des Todes erleichtern. Menschen, die den Anblick des toten Angehörigen ablehnen, bereuen später öfter, diese Möglichkeit vertan zu haben.

Letztlich unterstützen Seelsorger die Hinterbliebenen auch bei den nächsten praktischen Schritten. Wer muss dringend informiert werden? Wer kann die nächsten Stunden dem Trauernden beistehen? Die Kriseninterventionsteams bleiben in der Regel nur ein bis zwei Stunden in der Familie. Dann beginnt eine lange Phase, in der die Angehörigen allein lernen müssen, den Tod zu akzeptieren und irgendwann wieder den Blick auf das Leben zu richten.

Wie gut das gelingt, hängt von vielen Faktoren ab. Studien haben gezeigt, dass Menschen besonders leiden, wenn Schuldgefühle stark sind, der Tod als vermeidbar wahrgenommen wird oder mit Gewalt einherging. Noch belastender ist, wenn der Angehörige die Spuren dieser Gewalt sieht. Unter diesen Bedingungen steigt das Risiko, dass er an einem psychischen Leiden wie einer Posttraumatischen Belastungsstörung oder Depression erkrankt und professionelle Hilfe benötigt.

"Viele Menschen wünschen sich einen plötzlichen Tod", sagt Müller-Cyran zum Abschluss des Forums. Sie wollen schnell und ohne es selbst zu bemerken aus dem Leben scheiden. Nur: "In vielen Fällen ist dies ein Ausdruck des Verdrängens, bei dem die Situation der Hinterbliebenen nicht mitgedacht wird." Dabei wäre den Angehörigen geholfen, wenn sie wüssten, wie der Sterbende seine letzten Entscheidungen treffen würde. Ob er lebensverlängernde Maßnahmen möchte, Organe spenden würde. Wo und wie er bestattet werden möchte. Was er den Hinterbliebenen wünscht.

Wer rechtzeitig über das Lebensende spricht - so die Botschaft des Gesundheitsforums - kann den Angehörigen ein wenig Sicherheit in ihrer schwersten Stunde geben. Im Sinne des Verstorbenen zu handeln, kann für die Trauernden zu einem Trost werden.

© SZ vom 30.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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